Zwischen Magie und Realität

Von Friedrich Ofner · · 2005/07

Eine Spurensuche nach Gabriel García Márquez in seinem kolumbianischen Geburtsort Aracataca und der Versuch einer Liebeserklärung an seine BewohnerInnen.

Zu jener Zeit, als der Oberst Aureliano Buendía sich im Angesicht des Erschießungskommandos an jenen entfernten Nachmittag erinnerte, an dem ihn sein Vater mitnahm, um das Eis kennen zu lernen, war Macondo ein Dorf aus 20 Häusern am Ufer eines kristallklaren Flusses. Zu jener Zeit war die Welt so neu, dass viele Dinge keinen Namen hatten, und um sie zu benennen, war es nötig, mit dem Finger zu deuten.“
Der magisch-reale Schauplatz, mit dem der Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ beginnt, ist Aracataca, ein Dorf mit 20.000 EinwohnerInnen am Ufer eines schlammigen Flusses in der heißen Tiefebene des Magdalena. Mittlerweile ist die Welt so alt, dass die endlose Gewalt der kolumbianischen Geschichte keine Namen kennt, und um sie zu beschreiben, ist es nötig mit dem Finger zu deuten.
Hier, in Aracataca, wurde am 6. März 1927 Gabriel García Márquez geboren, 1982 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Literatur. Wie alle genialen Künstler hat er eine neue Linse geschaffen, um die Welt zu beschreiben: den magischen Realismus. Eine Linse, welche uns die Geschichte eines Dorfes und einer Familie offenbart.

Infernalische Hitze und glühender Staub schlagen uns beim Betreten Aracatacas ins Gesicht. Die Strahlkraft des Magischen Realismus wirkt bis zu den Weinbergen Perchtoldsdorfs und in die hintersten Winkel des Murtals, und so wurde in einer dunklen Winternacht aus einer romantischen Idee ein Drehbuch, aus einem Bausparvertrag ein Filmbudget und aus einem Laptop ein Videoschnittstudio. Ausgerüstet mit einem Sortiment Kabeln, Mikrophonen, Videolinsen, Stativen und einem halben Dutzend Márquez-Büchern erreichen wir verschwitzt, aber glücklich den Schauplatz aus „Hundert Jahre Einsamkeit“.
Gabito, so nennen ihn seine Landsleute liebevoll, hat hier seine ersten acht Lebensjahre verbracht. Aracataca wurde das magische Macondo – ein Symbol des Glücks, des Leidens und der Geschichte seiner Bevölkerung. Hier prägten Gabitos Großeltern seine Vorstellungskraft. „Weißt du, was Gabito gesagt hat? ‚Die wichtigste Materie für mein Werk liegt hier in Aracataca‘“, erinnert sich Alfredo Correa, 78 und Kindheitsfreund Gabitos. „Er wurde von seinen Großeltern erzogen. Am Abend durfte er nicht auf der Straße spielen. Er hat im Buch alle Geschichten verbunden, die ihm seine Großeltern erzählt haben.“
Alfredo ist beliebter Interviewpartner von JournalistInnen und routinierter Anekdotenerzähler. Stolz verweist er auf einen Artikel über sich in der kolumbianischen Ausgabe des Visa-Kreditkartenmagazins. Aracataca ist das Bethlehem der kolumbianischen Literatur und selbst den meisten Analphabeten ein Begriff. Gabito ist der Stolz eines Landes, das international nur durch Kokain, Guerilla und Gewalt Schlagzeilen macht. Doch die junge Schriftstellergarde Kolumbiens vermochte bislang noch nicht aus dem übergroßen Schatten Gabitos herauszutreten und verharrt weiterhin in internationaler Bedeutungslosigkeit.

Gabitos Großvater, der General, kam hierher auf der Flucht vor dem Guajira-Gesetz. Das Gesetz der staubigen Halbinsel lautet: „Wenn du tötest, werden wir dich töten. Nimmst du ein Auge, werden dir wir dein Auge nehmen.“ Gabito hat diese Geschichte fast 40 Jahre später aufgegriffen, um daraus den Ausgangspunkt von „Hundert Jahre Einsamkeit“ zu weben: das Duell von José Arcadio Buendía und Prudencio Aguilar.
Auf der Flucht vor dem Guajira-Gesetz umrundeten Gabitos Großeltern die Sierra Nevada de Santa Marta. Das majestätische Küstengebirge ist, damals wie heute, eine andere Welt. Tektonisch, geographisch, kulturell. Die stolzen BewohnerInnen der Sierra sind die Kogi, die Arhuaco, die Wiwa und Kankuamo. Für sie ist die Sierra die „Mutter des Universums“. Für Paramilitärs, Guerilla und Drogenmafia ist die Sierra entweder ein ideologisches Schlachtfeld, ein Labor für die soziale Revolution oder ein Geschäftsunternehmen. Alles jedoch fern der Staatsgewalt in Bogotá.
Für die meisten Cataqueros (Bewohner Aracatacas) ist die stets im Wolkenmeer versteckte Sierra ein mythisches Reich der Gesetzlosigkeit, weit entfernt und unbetretbar, obgleich Teil des Verwaltungsbezirkes. Restaurantbesitzer Memo erinnnert sich wehmütig an die Zeiten des Marihuana-Booms in den späten Siebzigern: „In der Nacht kamen Kolonnen von Mauleseln den Berg herab. Beladen waren sie mit Säcken von Marihuana. Im Dorf wurde der Strom ausgeschaltet, damit niemand die Marimberos (Marihuanapflanzer) erkennt“.
Nur hier konnte der magische Realismus entstehen. Die Erzählungen der Menschen sind voll fantastisch anmutender Geschichten, welche die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum verwischen. So wie die Geschichte über das größte Begräbnis in der nahe gelegenen Provinzhauptstadt Santa Marta: „Als die zwei beliebtesten Prostituierten der Stadt zu Grabe getragen wurden, stand durch die Menschenmenge der Trauernden der Verkehr still.“

García Márquez ist kein Lügner. Er nimmt die Wahrheit und spielt mit ihr. Jener Oberst Aureliano Buendía, der im Namen der Liberalen Partei 32 Aufstände und zwei Kriege gegen die Regierung anzettelte, um sie alle zu verlieren, wurde zu seinem Lebensende von seinen Gegnern geehrt: um ihn zu demütigen. Dies ist die politische Realität Kolumbiens, die auch in Aracataca fühlbar ist.
Mit dem den Costeños, den BewohnerInnen der Küstenregion, eigenen Stoizismus wird den Widrigkeiten des Lebens begegnet. Hitze, Stromausfälle, Entführungen sind Alltag. „Hier hat mich vor drei Jahren die Guerilla entführt“, deutet ein Enkel von Da Conte an. Jenem Da Conte, dem Gabito in seiner Autobiographie „Leben, um davon zu erzählen“, ein Denkmal setzt. Der Mann, der das Kino nach Aracataca brachte. „Nach mehreren Tagen wurde ich freigelassen. Sie haben mich gut behandelt“, kann er noch sagen, bevor er den Dominostein mit Schwung auf den Tisch in der lauten Billardhalle krachen lässt. Ein Stück dahinter, mit Neonlicht beleuchtet, wirbt ein grünes Plakat der Polizei: „Sei ein guter Kolumbianer. Denunziere, kollaboriere und werde Millionär“.

Die Dreharbeiten sind bereits voll im Gange. Wir haben gelernt, mit der Hitze umzugehen, so wie es die Cataqueros machen: Wir beschweren uns jeden Tag aufs Neue darüber. In Rafael Darío Jimenez, dem Direktor der „Casa Museo Gabriel García Márquez“, haben wir einen Freund und Helfer gefunden. Schritt um Schritt offenbart er uns die Schätze Aracatacas, die Geschichten, die KünstlerInnen und die MusikerInnen. Etwa „Perrro Negro“, 75 Jahre jung, Vater von 39 Kindern und Opa von über 100 EnkelInnen. „Perro Negro“ spielt kubanischen Son, gerade so als wäre er dem „Buena Vista Social Club“ entstiegen.
Die Motive und Charaktere aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ leben im Alltag der Cataqueros weiter. Jeder Musiker hat ein Ständchen für Gabo geschrieben, und der Dorfmaler Lucho Agamez ist auf Gabos Porträt spezialisiert. Die Fixierung der KünstlerInnen Aracatacas an die Motive Macondos erinnert an die Hingabe populärer nordkoreanischer Maler an ihr Lieblingsmotiv Kim-Jong-Ill.
Mittlerweile hat sich im Dorf unsere Anwesenheit herumgesprochen. Selbst beim Hahnenkampf dürfen wir ungestört filmen. Der Besitzer des Etablissements war leider nicht anwesend, da er sich nicht „impfen“ ließ. Vacuna, die Impfung, werden die Schutzgeldzahlungen an die Paramiltärs oder die Guerilla genannt. Wer sich nicht impfen lässt, riskiert an Bleivergiftung zu sterben. Genauso blutrünstig verläuft der Hahnenkampf. Allerdings haben wir auf den falschen Hahn gesetzt und 5.000 Pesos verloren, nicht ganz zwei Euro.
Am 10. Dezember 1982 erhielt García Márquez aus den Händen des schwedischen Königs den Literaturnobelpreis. Gekleidet war er in einen weißen Liqui-Lique, den traditionellen Anzug der karibischen Männer. Zu diesem Zeitpunkt wurde Aracataca zur „tierra nobel“, dem Nobelpreisland. Die Geschichten Macondos wurden zur Historie Aracatacas. Nur hier konnte der Magische Realismus entstehen. In der fieberhaften Hitze der Bananenzone verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Bevölkerung von Aracataca ist das lebende Zeugnis davon.



„Entre la Realidad y la Magia – La Gente de Macondo“
ist eine filmisch-literarische Spurensuche nach Gabriel García Márquez in seinem kolumbianischen Geburtsort Aracataca. Mehrere Stellen aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ bildeten den Ausgangspunkt einer Suche, die zu den Schätzen Aracatacas führt: Menschen, KünstlerInnen, MusikerInnen, so magisch und doch ganz real.
Uraufführung im April 2005 in Aracataca selbst.
Ein Film von Michaela Krimmer und Friedrich Ofner.

„100 Jahre Einsamkeit“ und „Leben, um davon zu erzählen“
(der erste Band der Autobiographie von García Márquez) sind – wie auch fast alle anderen Bücher des kolumbianischen Erfolgsautors – im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Friedrich Ofner studierte Kommunikationswissenschaften und Ethnologie in Wien. Nach seinem Zivildienst in der Südwind Agentur reiste er Anfang dieses Jahres nach Kolumbien, wo er sich immer noch aufhält.

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