Waqar Khan hockt an einem niedrigen Tisch und bestickt Stoff. Drei weitere Männer, alle zwischen 20 und 30 Jahre alt, hocken oder sitzen um denselben Tisch und sticken ebenfalls. Weiter hinten im Raum weben mehrere Jugendliche. Zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche arbeiten sie alle, nur sonntags haben sie frei. Abends räumen sie Tisch und Webstuhl beiseite, rollen ihre Matten auf dem Boden aus und schlafen da. Denn ihre Arbeitsstätte ist zugleich ihr Zuhause; ihr weniges Hab und Gut bewahren sie in kleinen Koffern auf, die sie in einer Ecke des etwa drei mal fünf Meter großen Raums stapeln.
„Es geht uns gut hier. Wir sind zufrieden. Wo immer wir hingehen mögen, wir sind zufrieden, solange wir genug Geld verdienen können“, sagt Khan. 150 bis 200 Rupien, umgerechnet vier bis fünf Euro, bekommen Khan und seine Kollegen für qualifizierte Arbeit am Tag, weniger als 100 Rupien für Hilfsarbeiten. Davon kann sich Khan keine eigene Unterkunft leisten, seine Frau, der Sohn und die Tochter leben weiter im Dorf, wo er sie einmal alle sechs Monate besucht. Inzwischen schickt er ihnen regelmäßig Geld. „Wenn das Geld einmal reicht, werde ich Frau und Kinder nachholen“, meint Khan.
Vor zehn Jahren ist er von seinem Dorf in der Nähe der nordindischen Stadt Allahabad nach Mumbai gezogen, weil die Familie am Land kein Auskommen mehr hatte. In Mumbai (Bombay, wie es bis 1996 hieß), hatte er gehört, kann jeder Arbeit finden, und er bekam tatsächlich sofort welche. Zuerst als Weber in einer kleinen Fabrik, dann, vor fünf Jahren, als Sticker bei seinem jetzigen Arbeitgeber Mustaqeen Ansari. In dessen Familie war es der Großvater gewesen, der vor bald 50 Jahren ebenfalls aus der Region Allahabad nach Mumbai gezogen war, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Das Kleinunternehmen, das er schließlich gründete, führt heute Mustaqeen, der 27-jährige Enkel. Es ist eines von Tausenden solcher Unternehmen im Mumbaier Stadtteil Dharavi.
Webereien und Chappal(Lederpantoffel)-Fabriken finden sich hier ebenso wie Gerbereien, Hemden- und andere Textilfabriken. Hier wird getöpfert, Zuckerwerk hergestellt, Gold geschmiedet, Zahnpasta erzeugt und medizinisches Gerät, etwa von der Weltgesundheitsheitsorganisation (WHO) zertifizierte Operationsnadeln. Zugleich werden Metall, Papier, Plastik und andere Stoffe wiederverwertet.
Doch es sind keine gewöhnlichen Unternehmen in einem gewöhnlichen Stadtteil. Viele „Fabriken“ befinden sich in Wohnhäusern, und viele sind von außen nicht zu erkennen. Die „Wohnhäuser“ aber sind vielfach nur Hütten, notdürftige Bauten, zunächst mit Metallplatten, Jutesäcken und Plastikplanen errichtet, später mit Sand, Beton, Ziegeln und anderen Baumaterialien verbessert und oft auch aufgestockt. Abgesehen von einigen größeren Straßen sind die Gassen eng, die Häuser mit ihren Auf- und Vorbauten dicht aneinander gepresst. Strom haben inzwischen die meisten Häuser, eigene Wasserleitungen dagegen nur wenige. Die Wasserversorgung ist trotz öffentlicher Brunnen und Wasserhähne ein ewiges Problem, und Toiletten gibt es trotz der von der Stadtverwaltung sowie verschiedenen NGOs errichteten WC-Anlagen bei weitem nicht genug. Offene Abwässerkanäle verlaufen in vielen Gassen direkt neben den Häusern. Dharavi ist nicht irgendein Bezirk von Mumbai und erst recht kein geplanter Bezirk: Dharavi ist Mumbais, Indiens und Asiens größter Slum mit knapp einer Million Einwohnern. Etwa weitere sieben von Mumbais insgesamt rund 16 Millionen Einwohnern leben in kleineren Slums oder in notdürftigen Baracken auf den Gehsteigen.
„Wenn – wie in Mumbai – rund die Hälfte der BewohnerInnen einer Stadt in Slums lebt, dann haben doch eindeutig Regierung und Bürokratie, aber auch die Gesellschaft versagt“, betont Sheila Patel, Gründerin und Leiterin der indischen NGO Sparc (Society for Promotion of Area Resource Centres), die einerseits den Menschen bei der Selbstorganisation hilft und sich andererseits als Mittlerin zwischen Regierung und SlumbewohnerInnen versteht. Patels Worte lassen sich direkt auf die Weltgemeinschaft übertragen. Denn knapp eine Milliarde Menschen – ein Sechstel der Weltbevölkerung und ein Drittel der weltweiten StadtbewohnerInnen – leben heute in Slums; diese Zahl könnte sich in den kommenden drei Jahrzehnten verdoppeln. Im Jahr 2050 könnten dann gar 3,5 Milliarden Menschen – die Hälfte der für die Mitte des 21. Jahrhunderts prognostizierten städtischen Bevölkerung – in Slums leben: Zu diesem Schluss kommt die Habitat-Organisation der Vereinten Nationen in ihrem im vergangenen Herbst vorgelegten Bericht „The Challenge of Slums“ (Die Herausforderung der Slums).
Wie UN-Generalsekretär Kofi Annan im Vorwort des Dokuments feststellt, verlagert sich damit auch die globale Armut in die Städte, ein Prozess, der heute als die „Urbanisierung der Armut“ anerkannt wird. Der Anteil der SlumbewohnerInnen in den Städten in Afrika südlich der Sahara ist mit 71,9 Prozent am höchsten, in Europa mit 6,2 Prozent am niedrigsten. In absoluten Zahlen leben hingegen rund 60 Prozent der weltweiten SlumbewohnerInnen in Asien.
Anlässlich der Präsentation des Berichts verwies Anna Tibaijuka, die Exekutivdirektorin von UN-Habitat, aber auch auf einen besonders wichtigen Aspekt zum Thema Slums: „Wir müssen anerkennen“, erklärte Tibaijuka, „dass die Armen ein bedeutender Wirtschaftsfaktor sind, hart arbeitende und ehrenwerte Menschen“.
Derartige Worte lassen wohl jeden, der es kennt, sofort an Dharavi denken, das die in Mumbai lebende Journalistin Kalpana Sharma zu folgender Aussage veranlasste: „Ein Slum ist nicht eine chaotische Ansammlung von Baustrukturen; er ist eine dynamische Ansammlung von Personen, die herausgefunden haben, wie man unter den allerwidrigsten Umständen überlebt“, betonte Sharma in ihrem im Millenniumsjahr veröffentlichten Buch mit dem Titel „Rediscovering Dharavi“ (Dharavi neu entdecken). Diesem positiven Urteil setzt sie freilich sofort eine Warnung nach: Bei all seiner sicherlich einzigartigen Produktivität und den Erfolgsgeschichten, die Dharavi vorzuweisen hat, gebe es selbstverständlich keinen Grund zum Jubeln. Denn in keinem dieser Unternehmen würden irgendwelche Arbeitsgesetze beachtet oder gebe es irgendeine soziale Absicherung, ganz abgesehen vom Grundsätzlichen: „Niemand sollte unter solchen Bedingungen leben müssen.“
Wie hoch der Gesamtumsatz aller zumeist sehr kleinen Gewerbe- und Industriebetriebe in Dharavi ist, von denen eine beträchtliche Zahl auch für den Export produzieren, weiß niemand. Sharma nennt Schätzungen, die von mehr als umgerechnet einer Million Euro am Tag sprechen. Nachprüfbar ist das nicht, denn diese Betriebe sind nicht dank, sondern trotz der Regierung und der zuständigen Ämter und Behörden entstanden – und viele sind illegal.
„Wir sollten das im größeren Zusammenhang betrachten. Formelle Jobs verschwinden immer mehr aus Mumbai, also sollte die Stadtverwaltung zufrieden sein, dass sich die Menschen selbst organisieren und informelle Jobs finden und nicht in wirklich illegale Tätigkeiten abgleiten“, betont NGO-Gründerin Patel. „Als man Dharavi 1985 schließlich zu einer Sonderplanungszone erklärte, wurde es ausschließlich als Wohngebiet behandelt. Niemand anerkannte, wie viele Kleinindustrien es hier gab und dass sich das Recyclinggewerbe der Stadt hier konzentrierte. Anstatt die Menschen mit Gesetzen und Verordnungen zu unterstützen, arbeitet die Gesetzgebung weiter gegen die Menschen, deren Unternehmen somit zu einem Gutteil illegal bleiben. Klar, dass da viele nicht offen über Löhne, Umsätze und ihre Kunden reden wollen.“
1995 verabschiedete die Regierung von Bombay ein neues Slum Rehabilitation Program. Patel: „Damit wurde erstmals offiziell anerkannt, dass SlumbewohnerInnen das Recht haben, in der Stadt zu leben. Die neue politische Leitlinie lautete nun: Wenn Menschen nachweisen können, dass sie schon vor 1995 in der Stadt lebten, kann ihr Slum nicht zerstört werden, ohne dass ihnen eine Alternative geboten wird. Für Menschen, die mehrere Jahrzehnte lang illegal waren, ist das ein wichtiger Schritt.“
The Challenge of Slums – Global Report on Human Settlements, UN-HABITAT 2003. Sprache: Englisch, bestellbar bei: www.amazon.co.uk oder
www.unhabitat.org.