Es vergeht kein Tag ohne Berichte gewaltsamer Ausschreitungen. Kein Tag ohne Todesopfer. Kein Tag ohne Angst, selbst ein Opfer der Gewalt zu werden. Zu tief sitzt der Schock über die Bilder von geköpften Leichen, die einfach im Rinnsal liegen gelassen werden. Stumme Zeugen brutaler Gewalt und Markenzeichen der „Chimères“ – radikaler Anhänger des Ex-Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, die unter dem Schlagwort „Operation Bagdad“ mit gezielten Terroraktionen gegen die Übergangsregierung und Gegner Aristides die Rückkehr ihres im Februar 2004 gestürzten Idols erzwingen wollen.
Am härtesten trifft es freilich die Zivilbevölkerung. Viele Schulen und Geschäfte bleiben in der Innenstadt von Port-au-Prince geschlossen, in den Abendstunden herrscht in den ansonsten überfüllten Straßen gähnende Leere. Und immer wieder bricht in den Armenvierteln der Stadt Panik aus, wenn sich die bewaffneten Banden Straßenkämpfe liefern, wenn „Chimères“ durch die Straßen ziehen und im Kugelhagel auch unschuldige Männer, Frauen und Kinder getötet werden. „Die Leute haben einfach Angst, auf die Straße zu gehen. Man weiß nicht, wann und wo die Chimères auftauchen“, so die 40-jährige Mutter Judithe D., die ihr Geschäft in der Innenstadt nur mehr wenige Stunden täglich aufsperren kann.
Auch Hilfstransporte für die Opfer des Wirbelsturms Jeanne im Norden des Landes mussten aufgrund der instabilen politischen Lage zum Teil eingestellt werden. Die Konvois waren immer wieder Ziel von Anschlägen und Raubüberfällen bewaffneter Gruppen. Der Sturm hatte im September des vergangenen Jahres knapp über 3.000 Menschen getötet und mehr als 200.000 Einwohner von Gonaïves, der drittgrößten Stadt des Landes, obdachlos gemacht.
Jean-Bertrand Aristide musste Ende Februar 2004 nach Aufständen von ehemaligen Militärs und StudentInnen, die sich immer mehr ausweiteten, das Land verlassen und setzte sich nach Südafrika ins Exil ab. Dem ehemaligen Armenpriester und späteren Günstling der USA wurde vorgeworfen, ein autoritäres und korruptes Regime aufgebaut zu haben und sich mit der Unterstützung von bezahlten Schlägertrupps an der Macht zu halten – ganz nach dem Vorbild der Diktatoren „Papa Doc“ François Duvalier und dessen Sohn Jean-Claude („Baby Doc“), die bis zur Wahl von Aristide im Jahr 1990 mit ihren „Tontons Macoutes“ die Bevölkerung terrorisiert hatten.
Doch im Gegensatz zum Jahre 1994, als die USA den 1990 demokratisch mit einer überwältigenden Mehrheit gewählten und 1991 von der Armee gestürzten Aristide mit einer militärischen Intervention wieder ins Amt hievten, forcierte Washington diesmal den Rückzug von Aristide. Gleich nach dessen erzwungener Flucht am 29. Februar entsandten Frankreich und die Vereinigten Staaten die ersten Interventionstruppen nach Haiti. Diese wurden im Juni 2004 schließlich von einer 3.000 Mann starken UN-Friedensmission namens MINUSTAH (Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haiti) unter dem Oberkommando Brasiliens abgelöst.
Mit finanzieller Unterstützung von Aristide – dem vorgeworfen wird, in seiner Amtszeit viele Millionen Dollar auf ausländischen Konten deponiert zu haben – und seinen Anhängern versuchen nun die „Chimères“, durch gezielte Terroraktionen die im März eingesetzte Übergangsregierung zu stürzen und die Rückkehr des Exil-Präsidenten zu erzwingen. Seither kommt es immer wieder zu blutigen Kämpfen zwischen den schwer bewaffneten Anhängern Aristides, der nationalen Polizei und den Rebellengruppen, die maßgeblich am Sturz Aristides beteiligt gewesen waren.
Die Entwaffnung der Gruppen zählt zu den vordringlichen Aufgaben der Übergangsregierung unter Präsident Alexandre Boniface und dem ehemaligen, lange Zeit in Wien tätigen UNIDO-Diplomaten und heutigen Premierminister Gérard Latortue. Ziel ist die Stärkung der staatlichen Institutionen und die Etablierung des schwachen Polizeiapparates als offizielle Ordnungsmacht. Tatkräftige Unterstützung soll dabei von den UN-Truppen kommen.
In den Anfangsmonaten der Mission setzte das brasilianische Oberkommando vor allem auf Stabilisierung durch langfristige Entwicklung und lehnte gewaltsame Aktionen ab. So erklärte General Augusto Heleno Ribeiro, er werde dem „starken internationalen Druck nicht nachgeben, blinde Gewalt gegen die bewaffneten Gruppen einzusetzen“ und bezog sich damit auf diesbezügliche Forderungen der USA, Frankreichs und Kanadas. Später präzisierte der General, dass es sehr wohl zu einem gezielten Einsatz von Gewalt kommen müsse, er aber gegen unpräzise Militärschläge sei, die die Zivilbevölkerung treffen würden.
In der Hoffnung auf einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat will Brasilien durch die Übernahme des Oberkommandos in Haiti vor allem seine regionale Führungsrolle unter Beweis stellen.
„Ich weiß nicht, was die Weißen hier machen … Sie sollten uns besser ihre Waffen und ihre Munition geben, damit wir uns um die Vagabunden kümmern können, die das Land in Unruhe versetzen“, beklagt sich ein Vertreter der Nationalpolizei in der liberalsten Zeitung des Landes, „Le Nouvelliste“. Aber auch die breite Bevölkerung ist enttäuscht, weil ihre Hoffnung auf einen raschen sozialen Frieden mit der UN-Präsenz nicht erfüllt wurde. Sie verlangt ein härteres Vorgehen gegen die „Chimères“ und andere bewaffnete Gruppen. „Die Brasilianer müssten in Cité Soleil aufräumen, alle Häuser durchforsten und die Gangs entwaffnen. Ansonsten wird sich die Sicherheitslage nie ändern“, ist auch der Taxifahrer Raúl L. überzeugt.
Neben einer raschen Stabilisierung der Sicherheitslage soll die UN-Mission die Übergangsregierung beim Aufbau der schwachen staatlichen Institutionen unterstützen. Die Stärkung eines nationalen Dialogs soll die Aussöhnung der in AnhängerInnen und GegnerInnen Aristides polarisierten Bevölkerung ermöglichen. Für den Herbst 2005 sind Wahlen als Baustein einer langfristigen Demokratisierung des Landes vorgesehen.
Anfang Dezember wurde das Mandat der Friedensmission vom UN-Sicherheitsheitsrat um weitere sechs Monate verlängert. Zudem sollen die bislang rund 5.600 Blauhelme um etwa 1.000 Mann aufgestockt werden. Doch trotz starker Militärpräsenz bereiten sich die Vereinten Nationen auf einen langen Einsatz im „Armenhaus Amerikas“ vor. UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte bereits zwei Wochen nach der Flucht Aristides erklärt: „Haiti ist eindeutig unfähig, allein aus der Krise zu finden. Das Land im Stich zu lassen, würde das Chaos verschärfen und verlängern. Eine langfristige Anstrengung in der Dauer von zehn Jahren oder mehr ist zu erbringen, um Polizei und Gerichtswesen wieder aufzubauen und grundlegende Dienste wie die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen zu garantieren.“
Das Hauptproblem, mit dem sich die UN-Truppen und die nationale Polizei Haitis konfrontiert sehen, ist nach wie vor der unkontrollierte Waffenbesitz im Land. Neben den gefürchteten „Chimères“ sind auch die Rebellengruppen und die ehemaligen Militärs stark bewaffnet. Diese richten zum Teil auch eigene Checkpoints ein und führen Straßensperren und Patrouillen durch, um sich als legitime Ordnungsmacht zu etablieren. Die Armee wurde nach der Rückkehr Aristides aus dem US-Exil verboten. Die Ex-Militärs fordern seither ihre erneute Anerkennung sowie die Auszahlung ihres Lohns und ihrer Pensionen. Sie genießen weitgehende Sympathie unter der Bevölkerung und nehmen in vielen Regionen des Landes die Rolle der Polizei ein, ohne dazu offiziell befugt zu sein.
Haitis Premier Latortue kündigte kürzlich ihre Reintegration in die nationalen Sicherheitsstrukturen an. Sie sollen zum Schutz von hohen Staatsfunktionären, zur Bewachung von öffentlichen Gebäuden und Plätzen etc. eingesetzt werden. Neben der Entwaffnung muss es also zur Wiedereingliederung dieser Gruppen kommen, um ihnen politische, soziale und wirtschaftliche Alternativen aufzuzeigen.
Versöhnung und nationaler Dialog werden auch von der internationalen Staatengemeinschaft gefordert. „Die internationale Gemeinschaft hat besondere Anstrengungen unternommen, um Haiti zu helfen. Aber wir können unser Engagement nicht fortführen, wenn es nicht zur nationalen Aussöhnung zwischen allen Haitianern kommt“, betonte Kanadas Premierminister Paul Martin bei seinem Besuch in der Hauptstadt Port-au-Prince Mitte November. Kanada stellt für die UN-Mission nicht nur eine große Polizei-Einheit zur Verfügung, sondern will auch mit der Wiederaufnahme von Wirtschaftsbeziehungen dem Land aus der Krise helfen.
Der Fluss von internationalen Hilfsgeldern musste im Zuge der anhaltenden Unruhen zum Teil eingefroren werden. Rund 1,1 Milliarden US-Dollar, die dem Staat im Juli 2004 von 13 Geberstaaten versprochen wurden, konnten bislang nicht ausbezahlt werden, weil es keine funktionierende Regierung gibt, die diese Gelder ordnungsgemäß verwalten könnte. Offenheit und Dialogbereitschaft ist aber auch gegenüber den AnhängerInnen des Ex-Präsidenten Aristide und seiner Partei Fanmi Lavalas notwendig. So wird der Übergangsregierung von Seiten der Opposition auch Repressionspolitik gegenüber der Aristide-Anhängerschaft vorgeworfen, die natürlich nicht nur aus den gefürchteten „Chimères” besteht. Aristide genießt vor allem unter den benachteiligten Sektoren der Gesellschaft auch nach seinem Sturz und dem Vorwurf der Korruption noch breite Sympathie.
Nachdem die Partei Fanmi Lavalas den Boykott der kommenden Wahlen angekündigt und sich selbst von der Wahlliste genommen hatte, unterstrichen politische Beobachter die Bedeutung ihrer Teilnahme. „Ich denke, es ist absolut wichtig, dass die Oppositionspartei Lavalas an den Wahlen teilnimmt“, so Kanadas Premier Martin: „Demokratische Wahlen sind nicht möglich, wenn diese von einem substanziellen Teil der Bevölkerung boykottiert werden.“
In einem Jahr, im Februar 2006, soll die Siegerin der Herbstwahlen die Agenden des Staates übernehmen. „Die Partei Fanmi Lavalas muss sich den Wahlen stellen. Und wenn sie die Mehrheit davonträgt, wird sie auch den Präsidenten stellen. Wenn ihre Anhänger aber in der Minderheit sind, werden sie auch ihre Minderheitsposition in der Regierung akzeptieren müssen“, fügte Martin hinzu. Ein Vertreter der Lavalas-Partei kündigte Ende Dezember schließlich doch die Teilnahme an den Wahlen an.
UN-Generalsekretär Kofi Annan hielt in seinem letzten Report zur Lage in Haiti Ende November fest: „Ohne parallelen politischen Prozess, der alle Sektoren der Gesellschaft einbezieht, kann kein dauerhafter Frieden und keine Sicherheit erreicht werden.“ Und Sicherheit und sozialer Friede ist auch das Hauptanliegen der Bevölkerung. Dem pflichtet auch Mutter Judithe D. bei: „Garantiert uns ein bisschen mehr Sicherheit, und die Verhältnisse des Landes werden sich rasch ändern.“
Für den 12. Jänner berief der Generalsekretär eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates zum Thema Haiti ein. Die Mitglieder riefen die Übergangsregierung dringend auf, eine Kommission zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration bewaffneter Gruppen zu gründen. Darüber hinaus appellierte der Sicherheitsrat an internationale Finanzinstitutionen und Geberländer, so rasch wie möglich die bei der Internationalen Geberkonferenz im Juli 2004 versprochenen Hilfsgelder auszuzahlen.