Die Präsidentin tritt ab, die Ära Kirchner geht nach zwölf Jahren zu Ende. Wie es den Menschen in Argentinien geht und ob die bevorstehenden Wahlen einen Kurswechsel nach rechts bringen könnten, berichtet Jürgen Vogt.
Geduldig steht Manuel Gonzales in der Schlange vor einer Filiale von „Pago Fácil“, einem beliebten Bezahldienst. In der Hand hält er eine kleines Bündel Rechnungen: Strom, Wasser, Gas. Bei „Pago Fácil“ – Bezahlen leicht gemacht – begleichen viele Argentinierinnen und Argentinier ihre monatlichen Rechnungen. Die Stimmung ist gut, man tratscht. „Bezahlen leicht gemacht“ scheint gleich doppelt zu gelten. „Hier“, Manuel zeigt auf seine Stromrechnung. 175 Peso, umgerechnet rund 17 Euro, müsste er bezahlen. Tatsächlich zahlt er nur 39 Peso. Den Rest schießt der Staat als Subvention zu. „Genauso ist es bei Gas und Wasser, alles subventioniert.“
Rückblende: Am Höhepunkt der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes gingen im Dezember 2001 Tausende auf die Straße. Sie protestieren, trommelten gegen die verrammelten Fassaden der Banken und jagten schließlich den damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa aus dem Amt. Im Jänner 2002 erklärte der neu eingesetzte Präsident Eduardo Duhalde das Land für zahlungsunfähig. Die Wirtschaft schrumpfte um dramatische elf Prozent. Einige Branchen wie das Bauwesen brachen sogar um über 40 Prozent ein. Rund die Hälfte der etwa 40 Millionen zählenden Bevölkerung rutschte in den Folgemonaten unter die Armutsgrenze, jeder fünfte war arbeitslos. Heerscharen von Cartoneros, Papiersammlern, zogen nachts durch die großen Städte und durchsuchten den Müll nach Verwertbarem. In den zahllosen Volksküchen bekamen viele ihre einzige warme Mahlzeit und Kinder ihren einzigen Becher Milch am Tag.
Retter aus der Krise. Die Subventionen wurden von der Regierung Kirchner eingeführt. „Damit wir nicht noch tiefer abrutschen“, erinnert sich Manuel Gonzales. Damals war er zwölf Jahre alt. „Heute glaubt eine ganze Generation, Strom und Wasser gebe es fast umsonst.“ Seit 2003 trägt der Präsident den Nachnamen Kirchner. Von 2003 bis 2007 war es Néstor, danach Cristina Fernández de Kirchner. Durch Néstor Kirchners überraschenden Tod im Dezember 2010 ist der nochmalige innerfamiliäre Wechsel an der Staatsspitze nicht mehr möglich. Cristina Kirchners zweite Amtszeit endet am 10. Dezember. Die Verfassung verbietet eine dritte in Folge.
„Für viele Argentinier haben die Kirchners das Land aus der Krise geführt, da kann die Opposition meckern wie sie will“, sagt Manuel Gonzales, der an der Universität von Buenos Aires Politikwissenschaften studiert. Die Regierung hat deshalb auch die Parole von der „Década ganada“, dem gewonnenen Jahrzehnt, ausgegeben. Die wirtschaftlichen Rahmendaten können sich sehen lassen. Von 2002 bis 2007 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um knapp neun Prozent pro Jahr. Danach verringerte sich das Wachstum immer mehr, heute liegt es bei zwei Prozent.
Urnengang
Am 25. Oktober finden in Argentinien Präsidentschafts- und Kongressteilwahlen statt. Gewählt werden PräsidentIn und VizepräsidentIn sowie die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der SenatorInnen. Abgeordnetenkammer und Senat bilden gemeinsam die Legislative. Der/die PräsidentIn ist zugleich Staatsoberhaupt und RegierungschefIn. Wahlberechtigt sind 32 Millionen Personen, es herrscht Wahlpflicht.
Sechs KandidatInnen kandidieren für die Präsidentschaft. Gewählt ist, wer im ersten Wahlgang über 45 Prozent erhält oder über 40 Prozent, bei einem gleichzeitigen Vorsprung von zehn Prozent auf den Zweitplatzierten. Erhält keineR der KandidatInnen die nötigen Stimmen, kommt es am 22. November zur Stichwahl.
Erfolgsrezept. Dass Argentinien relativ schnell aus dem tiefen Keller der wirtschaftlichen Krise zumindest bis ins Erdgeschoss gelangen konnte, hat mehrere Gründe. Da ist zum einen die Aufhebung der Peso-Dollar-Bindung, die die argentinische Währung bis Anfang 2002 in einem festen Wechselkurs von 1:1 an den US-Dollar gekoppelt hatte. Das führte zwar zu einer dramatischen Abwertung des Peso und zu einem Vermögensverlust bei einem Großteil der Bevölkerung, machte aber argentinische Exporte auf dem Weltmarkt wieder attraktiv. Zudem wurde die Höhe des Schuldendienstes an die privaten Gläubiger nach harten Verhandlungen verringert.
Ähnliche Maßnahmen wurden immer wieder als Lösungsansätze bei der gegenwärtigen Griechenlandkrise angeführt. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Argentinien über zwei Exportprodukte verfügte, deren Weltmarktpreise etwa ab dem Jahr 2003 auf immer neue Rekordmarken kletterten: Erdöl und Soja.
Für oder gegen Kirchner? Zwar wird vielen die Kirchner-Ära in guter Erinnerung bleiben, aber noch immer lebt ein großer Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Sozialforscherinnen und -forscher der Päpstlichen Katholischen Universität errechneten, dass etwa elf der 41 Millionen Argentinierinnen und Argentinier von Armut betroffen sind. Laut staatlicher Statistik-Behörde – die von einer niedrigeren Inflationsrate ausgeht – sind es allerdings nur zwei Millionen.
„Der nächste Präsident muss an die Subventionen ran“, sagt Manuel Gonzales, die würden heute ein Loch in den Staatshaushalt reißen, das nicht mehr zu finanzieren sei. Wer die Wahl im Oktober gewinnt, wagt er nicht vorherzusagen. Lediglich, dass sich im Wahlkampf alles um die Achse K – Anti-K drehen werde. „Die politische Kultur ist polarisiert, bei vielen geht es nur um die Frage, ist der Kandidat für oder gegen die Kirchner-Regierung.“
Tatsächlich treibt der autoritäre Regierungsstil von Präsidentin Kirchner immer mehr einen Keil in die Gesellschaft. Regierungsentscheidungen werden im kleinsten Kreis getroffen, Kabinettsitzungen finden nicht statt, das Parlament ist faktisch entmachtet, da die Präsidentin mit Dekreten die vom Kongress beschlossenen Haushaltsmittel nach eigenem Gutdünken neu verteilen kann. Dazu kommen die nicht enden wollenden Korruptions- und Bereicherungsvorwürfe. Vor allem der Medienriese „Grupo Clarín“ zeichnet seit Jahren das Bild eines sich bereichernden Politclans.
Rennen um das Präsidentenamt. Doch beim Großteil der Bevölkerung bleibt dieses Bild nicht haften. Dort stehen Arbeit, Wirtschaft und Konsum auf der stimmentscheidenden Themenliste ganz oben. Und diesbezüglich ist die Stimmung gut. „Der Durchschnittswähler meint, die Lage des Landes und die Aussichten hätten sich verbessert“, sagt Pablo Knopoff, Direktor des Wahlforschungsinstituts Isonomía.
Aus den Vorwahlen im August seien die zwei wichtigsten Kandidaten, der Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires Daniel Scioli und der Bürgermeister der Hauptstadt Mauricio Macri, gestärkt hervorgegangen, so Knopoff. Vorwahlen in Argentinien sind mehr als nur ein Stimmungstest. Es herrscht Wahlpflicht und alle der rund 32 Millionen Wahlberechtigten, nicht nur Parteimitglieder, mussten ihre Stimmen abgeben. Dabei bestimmen die Parteien, wie viele KandidatInnen sich zur Vorwahl stellen. Erlaubt ist sogar, nur einen Bewerber zu präsentieren, wie im Fall des Kandidaten der Regierung, Daniel Scioli.
Scioli setzte sich mit knapp 38 Prozent der Stimmen an die Spitze. Macri kam auf 31 Prozent. Das ist noch keine deutliche Entscheidung. „Das Rennen um die Präsidentschaft am 22. Oktober ist offen“, sagt Knopoff. 25 Prozent der Wahlberechtigten hätten sich noch nicht entschieden, wem sie letztlich ihre Stimme geben werden, so der Wahlforscher.
Scioli hatte lange Zeit das Image, ein von der Regierung relativ unabhängiger Kandidat zu sein. Damit ist Schluss. Mit Carlos Zannini stellte ihm die Präsidentin einen Kirchneristen der ersten Stunde als Vizepräsidentschaftskandidaten an die Seite. Mit diesem überraschenden und geschickten Schachzug sichert sich die scheidende Präsidentin weiterhin Einfluss auf die Regierungsgeschäfte.
Kurswechsel nach rechts? In der Hauptstadt hat sich mit der Mitte-Rechts-Partei „Propuesta Republicana“ (kurz PRO) des reichen Unternehmersohnes und früheren Präsidenten des Fußballclubs Boca Juniors, Mauricio Macri, eine neue politische Kraft etabliert. Formiert hatte sich die Partei ab 2001 aus versprengten traditionell-konservativen Resten der Altparteien sowie aus Teilen der Unternehmerverbände. Ihre politischen Positionen stammen aus der Denkfabrik „Creer y Crecer“ („Glauben und Wachsen“). Sie lieferte unter den Vorzeichen der freien Marktwirtschaft die Ideen und Strategien für eine moderne Rechtspartei. 2005 trat die PRO erstmals bei den Kongresswahlen an und schaffte den Einzug ins Abgeordnetenhaus. 2007 gewann Mauricio Macri die Wahl zum Bürgermeister der Hauptstadt. Vier Jahre später schaffte er problemlos die Wiederwahl.
Jetzt will Macri Präsident werden. Zwar ist seine Partei die stärkste politische Kraft in der Hauptstadt, landesweit ist sie jedoch nur wenig verankert und verfügt schon gar nicht über einen so mächtigen Parteiapparat wie die regierenden linken Peronisten. Um dieses Manko auszugleichen, gingen PRO und die traditionsreiche UCR die Allianz Cambiemos („Lasst uns etwas ändern“) ein. Es sind vor allem die Wahlberechtigten der oberen Mittelschicht und der Oberschicht, die Macri ihre Stimmen geben werden.
Chancen auf den Präsidentensessel hat er aber nur, wenn er den Sieg des Kandidaten der Regierungspartei im ersten Wahlgang verhindert und ihn in eine Stichwahl zwingt. Dazu muss er es aber schaffen, Stimmen von der Wahlklientel von Daniel Scioli zu bekommen. Scioli wird vor allem von der ärmeren Mittelschicht und von denen unterstützt, die sich am unteren Ende der sozialen Hierarchie befinden.
Manuel Gonzales steht jetzt am Schalter und bezahlt seine subventionierten Rechnungen. Wem er seine Stimme gibt, weiß er noch nicht. Nur so viel kann er sagen: Gewinnt Scioli, werden die Zuschüsse langsamer abgebaut, gewinnt Macri, geht es schneller.
Jürgen Vogt war viele Jahre Redakteur und Geschäftsführer der Lateinamerika Nachrichten in Berlin. Seit 2005 lebt er in Buenos Aires und ist u.a. Südamerika-Korrespondent der taz.
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