Angesichts der wachsenden Kluft zwischen der weltweiten Armut und der Spendenbereitschaft seiner Geldgeber läuft das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen Gefahr, Schiffbruch zu erleiden.
Am 10. Jänner kündigte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) von Ägypten aus die „Operation Rettungsleine Gaza“ an, und rief dazu auf, die Verteilung von Nahrungsmitteln an die Bevölkerung des besetzten Gazastreifens zu verstärken. „Es ist unsere Aufgabe, hungernde Menschen in schwierigen Situationen zu ernähren – in Erdbebenzonen, bei Dürren oder nach Tsunamis“, erklärte WFP-Exekutivdirektorin Josette Sheeran und setzte fort: „In Gaza stehen wir vor einer der schwierigsten Herausforderungen unserer Geschichte, da der Zugang zu den Hungernden so beschränkt ist.“ Mindestens 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza brauchten dringend Ernährungshilfe.
In Somalia, einem weiteren aktuellen Krisenherd, benötigen 3,1 Millionen Menschen Nahrungsmittelhilfe. 2008 hat das WFP mit 60 Schiffstransporten genug Lebensmittel geliefert, um 1,3 Millionen Personen ein Jahr lang zu ernähren. Mitte Dezember erhielt ein WFP-Schiff erstmals Geleitschutz gegen Piratenüberfälle durch ein Schiff der jüngst bereitgestellten EU-Eskorte. „Die Piraten haben die humanitäre Lebensader für Somalia bedroht“, so Ramiro Lopes da Silva, Hauptverantwortlicher für die WFP-Operationen in der Region. Erst mit Hilfe der EU-Mission könne das Programm wieder garantieren, „dass Nahrungsmittel die Menschen in Somalia erreichen, die unter Dürren, Konflikten und den Auswirkungen der hohen Nahrungsmittelpreise leiden“.
Im Jahr 1992 lag der Anteil der durch menschliches Verschulden ausgelösten Hungerkrisen noch bei 15 Prozent, inzwischen ist er auf über ein Drittel angestiegen. Auch das Risiko, dem die HelferInnen ausgesetzt sind, hat zugenommen. In Afghanistan wurden in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres 30 Hilfskräfte getötet und 80 MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen entführt; bei den 26 Überfällen auf Hilfskonvois des WFP wurden Hilfsgüter vernichtet, die 100.000 Menschen einen Monat lang versorgt hätten. Ähnlich unsichere Einsatzgebiete waren zuletzt Darfur in Sudan, die Demokratische Republik Kongo, Liberia und Somalia.
Doch nicht nur durch den vermehrten Einsatz in Krisenregionen und die damit verbundenen Risiken werden die Kapazitäten des WFP bis an seine Grenzen beansprucht. Parallel dazu hat im Zuge des globalen Klimawandels die Zahl der jährlich durch Naturkatastrophen verursachten Notfälle deutlich zugenommen: Mitte der 1990er Jahre musste mit 200 bis 250 solcher Krisenfälle pro Jahr gerechnet werden, zwischen 2000 und 2005 waren es bereits 400 bis 450. 2007 versorgte das WFP fast sieben Millionen Menschen in 23 Notfall-Operationen mit Lebensmitteln, darunter die Opfer von Wirbelsturm und Überschwemmungen in Bangladesch, von Hurrikanen in Nicaragua und der Karibik, Wirbelstürmen in Pakistan und Mosambik, eines Erdbebens in Peru und von Überschwemmungen in weiten Teilen Afrikas.
Insgesamt hat das WFP, die weltweit größte humanitäre Organisation, im vergangenen Jahr 86,1 Millionen Menschen in 80 Ländern erreicht. Über die Notoperationen hinaus wurde Hilfe beim Wiederaufbau geleistet, wurden Mahlzeiten für Schulkinder und Entwicklungsprojekte finanziert. Für seine Tätigkeit ist das WFP ausschließlich auf Spenden angewiesen, die hauptsächlich durch Regierungen und andere internationale Organisationen bereitgestellt werden. Doch während diese Beiträge stagnieren oder sogar sinken, wachsen die Herausforderungen. Auch wenn die Organisation 2007 mit ihren Einnahmen von 2,7 Mrd. US-Dollar mehr als die Hälfte der weltweiten Nahrungsmittelhilfe leisten konnte, kommt in der Bilanz dieses Jahres doch eine Besorgnis erregende Entwicklung zum Ausdruck: Hatte die weltweite Hilfe im Jahr 1999 noch 15 Mio. Tonnen betragen, ist sie seither auf 5,9 Mio. Tonnen zurückgegangen. Bis 1997 war es gelungen, die Zahl der Hungernden schrittweise auf 791 Mio. Menschen zu senken; seither stieg sie Jahr für Jahr um etwa vier Millionen.
2007 verschärfte sich der negative Trend zusätzlich durch enorme Preissteigerungen der wichtigsten Grundnahrungsmittel; allein der Weizenpreis verdoppelte sich innerhalb eines Jahres. Bereits gegen Jahresende sah sich das WFP gezwungen, Programme in Ländern wie Kambodscha und Äthiopien zu streichen; nur 91 Prozent der budgetierten Kosten konnten gedeckt werden. Im Jahr 2008 musste WFP-Direktorin Sheeran angesichts der dramatischen Entwicklung gleich mehrmals Alarm schlagen. Sie sprach von der größten Herausforderung in 45 Jahren WFP-Geschichte, einem „stillen Tsunami für die Hungrigen der Welt“ und dem „neuen Gesicht des Hungers“: Es seien zwar genug Nahrungsmittel vorhanden, doch sie seien für immer mehr Arme unerschwinglich. Mit dramatischen Appellen konnte die Organisation im Frühjahr 2008 eine drohende Finanzlücke schließen. Doch im Herbst erhielt die Abwärtsspirale für die Armen im Süden der Welt durch die vom Norden ausgehende Finanzkrise neuen Antrieb. Zwar waren die Preise für Lebensmittel etwas gesunken, doch forderten Kapitalflucht und sinkende Rücküberweisungen von in Industrieländer Emigrierten ihren Tribut. Die Zahl der Hungernden, bereits 2007 um 75 Mio. angestiegen, nähert sich laut Zahlen der FAO vom Dezember 2008 der Milliardengrenze.
Angesichts der gigantischen, für die Rettung der Banken flüssig gemachten Beträge rief das WFP dazu auf, einen Bruchteil davon für die Finanzierung des Kampfs gegen den Hunger bereitzustellen. „Wir dürfen über die Nöte der Wall Street nicht die Sorgen jener Menschen vergessen, die keine Straßen haben“, so Josette Sheeran. Mit nur einem Prozent der Kosten der Stabilisierungspakete in den USA und Europa könne die Arbeit des WFP zur Gänze finanziert werden. Ohne rasche Unterstützung drohe die Erschöpfung der WFP-Reserven bereits im März; Millionen Menschen in Haiti, Äthiopien, Kenia und anderen Krisenregionen würden keine Ernährungshilfe mehr erhalten.
Teilweise gegensteuern konnte das WFP dem zunehmenden Missverhältnis zwischen steigenden Anforderungen und sinkenden Einnahmen in den letzten Jahren, indem es vermehrt Nahrungsmittel in den von Krisen betroffenen Ländern selbst kaufte und seine Maßnahmen hin zu finanzieller Hilfe verlagerte. Doch ohne den politischen Willen der reichen Länder läuft der Kampf gegen den Hunger Gefahr, zu scheitern.
Hermann Klosius lebt als freier Journalist und Solidaritätsaktivist in Wien.