Es gibt Menschen in der Demokratischen Republik Kongo, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine Mauer an der Ostgrenze ihres Landes. Sie soll den ungeliebten Nachbarn Ruanda endgültig aus kongolesischem Gebiet fernhalten. Dann, so die Hoffnung radikaler NationalistInnen, wäre auch die ruandische „Ausplünderung“ kongolesischer Rohstoffe beendet und die ruandische Militärmacht aus dem Ostkongo verbannt.
Es gibt tatsächlich eine Mauer zwischen Kongo und Ruanda. Sie verläuft oberhalb des Grenzübergangs, der am Kivu-See die Städte Goma (Kongo) und Gisenyi (Ruanda) verbindet. In Wirklichkeit ist sie keine Grenzanlage, sondern eine aus kolonialer Vergangenheit übrig gebliebene bessere Gartenmauer mit kleinen Türen darin. Die BewohnerInnen auf beiden Seiten davon können sich gegenseitig ins Fenster sehen. Weiter bergauf, wo die Mauer endet, gehen die beiden Städte ineinander über. Villen und Hütten mischen sich durcheinander, und in welchem Land sie liegen, merkt man am ehesten an der Bauweise: kleine Holzhütten mit viel Gewusel auf der kongolesischen Seite, größere Steinhäuser mit abgeschotteten Eingängen auf der ruandischen. Wo genau auf den sandigen Gassen, die hier mitten durch die Hausreihen von einem Land ins andere führen, Kongo in Ruanda übergeht, sieht man zuweilen nur an den quer über den Weg gespannten Seilen, an denen einige gelangweilte ruandische Soldaten Wache stehen.
In den letzten zehn Jahren der bewaffneten Konfrontation und politischen Spannungen zwischen Kongo und Ruanda sind das 500.000 EinwohnerInnen zählende Goma und das 150.000 EinwohnerInnen zählende Gisenyi zu Zwillingsstädten geworden. Viele Kongolesen – Männer und Frauen – sind nach Gisenyi gezogen, angelockt von mehr Sicherheit und einer besseren Infrastruktur. Viele RuanderInnen arbeiten in Goma, wo es mehr wirtschaftliche Möglichkeiten gibt.
Die kongolesisch-ruandische Grenze trennt die Menschen nicht, sie verbindet. Aus Goma fahren die Wirtschaftstreibenden nach Gisenyi, um ihre Bankgeschäfte zu erledigen, und die südafrikanische Fabrik MPA in Gisenyi verarbeitet ostkongolesische Zinnerze. Ruandische TagelöhnerInnen arbeiten auf Gomas vielen Baustellen und versorgen seine Märkte mit Bohnen. Ähnliches gilt für das Städtepaar Bukavu-Cyangugu an der Südseite des Kivu-Sees, wenn auch in Bukavu anders als in Goma die Mehrheit der Bevölkerung Ruanda hasst. Als im Juni im Zuge neuer Kämpfe in Ostkongo Ruanda einige Wochen lang die Grenze in Gisenyi und Cyangugu komplett dicht machte, brach auf beiden Seiten die lokale Wirtschaft zusammen.
Kongos Wirtschaft ist von der seiner Nachbarn nicht zu trennen. Es ist viel leichter, aus jedem beliebigen Teil dieses Landes von der Größe Westafrikas in ein Nachbarland zu reisen als an das andere Ende des Kongo selbst. Die Hauptstadt Kinshasa im Westen des Landes liegt an der Staatsgrenze zur Republik Kongo in Sichtweite der Nachbarhauptstadt Brazzaville. Die Bergbaumetropole Lubumbashi in der Südprovinz Katanga liegt an der Grenze zu Sambia. Die ostkongolesischen Kivu-Metropolen Goma und Bukavu grenzen an Ruanda. Und an Kongos Nordgrenze liegt Bangui, die Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, direkt am Grenzfluss Ubangi. Kein Wunder, dass Südafrikas Präsident Thabo Mbeki die DR Kongo als Schlüssel zur „afrikanischen Renaissance“ begreift: Dieses riesige Land im Herzen des Kontinents verbindet die verschiedenen Teile Afrikas. Das gesamte südliche Afrika träumt von dem Tag, an dem der riesige Inga-Staudamm am Unterlauf des Kongo-Flusses endlich entsprechend riesige Kraftwerke bedient, die den halben Kontinent mit Strom versorgen könnten. Südafrika bezieht bereits heute über Fernleitungen durch Katanga, Sambia und Simbabwe Strom vom Kongo.
Kongos Friedensprozess ist vom Prozess der regionalen Integration nicht zu trennen. Die von der UNO geleitete „Friedenskonferenz für das Afrika der Großen Seen“, deren erste Etappe im November 2004 in Tansanias Hauptstadt Dar es Salaam stattfand, verknüpfte explizit die regionale mit der innenpolitischen Ebene. „Krisen und Konflikte, die ein Land betreffen, können rasch auf ein anderes übergreifen und sogar auf die gesamte Region, aufgrund der engen Bande zwischen unseren Völkern“, heißt es in der „Erklärung von Dar es Salaam“, die die Präsidenten von Angola, Burundi, der Zentralafrikanischen Republik, der Republik Kongo, der DR Kongo, von Kenia, Ruanda, Sudan, Tansania, Uganda und Simbabwe am 20. November zum Gipfelabschluss unterzeichneten. Unter anderem verpflichten sie sich dazu, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen.
Im Grunde wird damit die Vision von 1997 wieder zum Leben erweckt, als die Regierungen halb Afrikas gemeinsam in Zaire politisch und militärisch eingriffen, um Diktator Mobutu Sese Seko zu stürzen. Dass der von ihnen an die Macht gehievte Laurent-Désiré Kabila das in Kongo zurück benannte Land und die gesamte Region noch tiefer in die Krise manövrieren sollte, konnten sie nicht wissen. Diesmal soll es besser klappen, sollen sich die Länder auf gleicher Augenhöhe und mit Respekt für ihre Souveränität begegnen und konkrete Projekte statt abstrakter panafrikanischer Visionen verhandeln.
Ein Beispiel: Die Energieversorgung. Ganz Ostafrika – Kenia, Tansania, Uganda, Ruanda, Burundi und Ostkongo – leidet unter einem chronischen Mangel an einheimisch produzierter Energie und unter häufigen Stromausfällen. Ruanda, Burundi und Ostkongo beziehen einen großen Teil ihres Stroms von zwei Wasserkraftwerken am Ruzizi-Fluss, der zwischen dem Kivu- und Tanganyika-See die Grenze zwischen Kongo am Westufer und Ruanda und Burundi am Ostufer bildet. Die gemeinsame Verwaltung der beiden Kraftwerke Ruzizi I und Ruzizi II durch die drei Länder war während des Kongokrieges ein seltenes Beispiel für funktionierende regionale Zusammenarbeit. Aber heute decken sie den lokalen Bedarf längst nicht mehr, am wenigsten im schnell wachsenden Ruanda.
Da der Kivu-See in seinen Tiefen 55 Milliarden Kubikmeter Methangas enthält, die leicht zu Energie zu machen wären, leben alte Pläne wieder auf, Ruanda und Kongo gemeinsam die Gase des Sees nutzen zu lassen – bisher tut dies nur eine ruandische Brauerei in Gisenyi. Jährlich, heißt es in ruandischen und kongolesischen Medien, könnten aus dem See gefahrlos 150 Millionen Kubikmeter Gas gefördert werden. Das würde 80 Megawatt bringen, was den Jahresbedarf Ruandas, Burundis und Ostkongos übersteigt.
Ein anderes Beispiel: Transportwege. Ostafrika ist für seinen Interkontinentalhandel fast vollständig auf den kenianischen Hafen Mombasa angewiesen. Die überlastete und unfallträchtige Fernstraße von Mombasa nach Nairobi ist das Nadelöhr für sämtliche asiatischen Importe, Öleinfuhren und die Rohstoffexporte der Region. Jede politische oder wirtschaftliche Störung irgendwo auf der Wegstrecke zieht eine Kettenreaktion nach sich. Am anfälligsten und abhängigsten sind die zwei Endpunkte Ostkongo und Burundi.
Um den Handel mit Asien stärker auf andere Häfen zu verlagern und weitere Verbindungswege zwischen den Ländern zu schaffen, wäre vieles denkbar: Ausbau der Fernstraßen zwischen Kongo und Uganda; Erweiterung der bestehenden Eisenbahnlinien in Kenia und Ostuganda in den Westen Ugandas, den Osten Kongos und sogar den Süden Sudans; Bau einer Bahnstrecke von Ruanda nach Tansania. Das alles würde viele Milliarden Euro kosten, denn in dieser von Bergen und Seen durchsetzten Region ist jede neue Verkehrsverbindung ein gigantischer Aufwand. Aber dass es machbar ist, zeigen die mit chinesischer Entwicklungshilfe realisierten neuen Bergstraßen in Ruanda und dem Westen Ugandas und die vielen dezentralen, von Deutschland geförderten kommunalen Straßenbauprojekte im Osten Kongos. Diese fügen sich wiederum in die Wiederherstellung des zerfallenen kongolesischen Fernstraßennetzes ein.
So wächst zusammen, was zusammengehört. Anfang 2005 haben Uganda, Kenia und Tansania eine Zollunion gegründet, die langfristig die 1987 zerfallene „Ostafrikanische Gemeinschaft“ wieder zum Leben erwecken soll – vielleicht mit Ruanda und Burundi, und auch mit privilegierten Beziehungen zum Süden Sudans und zum Osten Kongos. Im Jahr 2013, so die gegenwärtige Planung, soll eine gemeinsame ostafrikanische Regierung entstehen. Solche Pläne haben in Afrika noch nie funktioniert, aber dass überhaupt in diese Richtung gedacht wird, zeugt von einem Sinneswandel nach einer Dekade grenzüberschreitender Kriege. Wenn nun auch die vom Krieg gezeichneten NationalistInnen der Region, die nationale Abschottung und ethnische Ausgrenzung befürworten, vom Vorteil dieses neuen Denkens überzeugt werden könnten, wäre eine friedliche Zukunft für das Afrika der Großen Seen bedeutend näher gerückt.