Resignation und Aufbegehren

Von Antje Krüger · · 2005/12

In Argentinien und Chile beginnen traditionelle politische Strukturen zu zerbrechen. Damit folgt nun auch die Politik den Veränderungen in der Gesellschaft. Ein neues System aber konsolidiert sich nur schleppend.

Es war seltsam ruhig an diesem 23. Oktober, Wahlsonntag in Buenos Aires. Keine Triumphzüge schoben sich massenwirksam nach Urnenschluss Richtung Regierungspalast. Kein Marsch der Peronisten ertönte auf der Plaza de Mayo. Nur vor den Wahlkampfzentren wurde ein wenig applaudiert. Dabei hatte der Peronismus wie so oft in seiner 60-jährigen Geschichte wieder einmal gesiegt. Und diesmal gleichzeitig auch verloren. Die Peronistische Partei (PJ) ist nicht mehr geeint. Während der Parteiflügel des Präsidenten Néstor Kirchner jubelt und seine knapp 40-Prozent-Zustimmung feiert, büßen die beiden anderen Flügel um die Ex-Präsidenten Carlos Menem und Eduardo Duhalde erstmalig ihre scheinbare Allmacht ein. Eine Partei, drei verschiedene Strömungen, die in so erbitterter Konkurrenz gegeneinander arbeiten, dass zeitweilig die argentinische Justiz einen Parteivorsitzenden bestellen musste. Die sich gegenseitig derartig ausbremsen, dass Präsident Kirchner bislang im Kongress auf Koalitionen mit der Opposition angewiesen war, obwohl seine eigene Partei die Mehrheit im Parlament hat. Was war geschehen?
Argentiniens politische Landschaft, seit Jahrzehnten vom Zweiparteiensystem der Peronisten und Radikalen (Unión Cívica Radical, UCR) beherrscht, zerbröselt. Der Urnengang am 23. Oktober, bei dem zur Hälfte Senat und Kongress neu gewählt wurden, manifestierte nun auch auf Parteienebene, was gesellschaftlich schon längst vonstatten ging – den politischen Umbruch. Doch die äußeren Strukturen schwinden nur langsam, neue Konzepte gibt es nur ansatzweise.

„Dieses ganze Geklüngel! Da blickt keiner mehr durch. Jeder gegen jeden. Ich glaube kaum, dass sich daran je wirklich etwas ändern wird. Was wir wollen und brauchen, ist denen egal“, schimpft Teresa Martínez. Die Kindergärtnerin sitzt mit einigen Freunden in einem Café im Zentrum von Buenos Aires. Sie hatten sich über die Arbeit unterhalten, aber dann war das Gespräch, wie so häufig, auf die Politik gekommen. Vom einen Thema zum anderen ist es nicht weit.
Auch wenn es in Argentinien seit dem Zusammenbruch des Landes im Dezember 2001 wieder beständig bergauf geht, ist ein bequemes (Über-)Leben noch lange nicht in Sicht. Auch nicht in der Mittelschicht, die sich als erste erholte. Die Angst sitzt noch im Nacken. Und da wird gerne geschimpft. Wütend grimmig über Lebemann und Ex-Präsident Carlos Menem, der das Land in den Abgrund manövrierte, gegen den verschiedene Prozesse wegen Korruption laufen und der allen Ernstes zur Präsidentschaftswahl 2007 wieder antreten will. „Dass so was überhaupt möglich ist, zeigt doch, in welchem Zustand sich unser politisches System befindet“, meint Analía Barón, eine Freundin von Teresa. Die Frauen witzeln über die drei kurvenreichen Schauspielerinnen, welche die einzigen neuen Gesichter in der Politikerriege des Wahlkampfes waren.
Politik ist ein dankbares Thema in Argentinien. Sie wird diskutiert, wo immer mehr als zwei Leute zusammen kommen. Heftig und gestenreich und doch als etwas Fremdes, etwas, auf das man selbst keinen Einfluss hat, dem man einfach nur ausgeliefert ist. Die Meinungen sind klar, die Positionen auch, oft von Kindesbeinen an. Und doch ist dies eine Gewohnheit, die möglicherweise nun auch ins Wanken gerät. „Der antipolitische Diskurs macht langsam einem Nachdenken auch über das Wahlverhalten Platz. Bei der letzten Wahl wählten die BürgerInnen erstmalig bewusst und nicht automatisch je nach traditioneller Parteienaffinität. Dies könnte einen der größten Umbrüche der politischen Landschaft Argentiniens seit 50 Jahren einleiten“, diagnostiziert der Journalist Luis Bruschtein.

Szenenwechsel. Ein Café in Santiago de Chile. Der Medizinstudent Juan Herrera sitzt mit drei Freunden beim Mittagessen. Auch hier geht es um die Arbeit. Die Arbeitslosigkeit und das kränkelnde Gesundheitssystem gehören zusammen mit der wachsenden Kriminalität zu den drei wichtigsten Aufgaben, welche die ChilenInnen von einer neuen Regierung gelöst sehen wollen. Das Gespräch plätschert hin und her, vom Alltäglichen zum Persönlichen – Politik wird jedoch nicht berührt.
Draußen auf der Straße prangen die Wahlplakate und werben für die Sozialistin Michelle Bachelet von der Regierungskoalition Concertación, für die beiden rechten Politiker Joaquín Lavín (UDI) und Sebastián Piñera (RN) sowie für Tomás Hirsch vom linken Bündnis Juntos Podemos („Gemeinsam können wir“). Auch hier wird demnächst gewählt: am 11. Dezember ein neuer Präsident. Beziehungsweise eine Präsidentin – denn die frühere Verteidigungsministerin Bachelet hat die besten Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Und auch hier bröckelt erstmalig, was seit 1990 die politische Landschaft bestimmt, seine Wurzeln jedoch noch weit vor den 1970er Jahren hat.
Jahrzehntelang war Chile in fast gleichstarke politische Hälften geteilt, in rechts und links. Hälften, die sich nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 in zwei Koalitionen etablierten, der Concertación, einer Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten, und der Alianza der Parteien Unabhängige Demokratische Union (UDI) und Nationale Erneuerung (RN). Ein Bündnissystem, das bislang Chiles politische Landschaft beherrschte. Doch nun gibt es die Alianza nicht mehr. Sie spaltete sich überraschend im Wahlkampf und tritt mit zwei Kandidaten an. Eine Entwicklung, die auch in Chile das politische Machtgefüge ein wenig verschiebt und neue Wege öffnen könnte.

Doch, anders als in Argentinien, herrscht hier unter den StudentInnen im Café Desinteresse an den politischen Geschehnissen. „Solange wir noch immer mit der Verfassung von Pinochet leben, kann von Demokratie keine Rede sein. Bei unserem Wahlsystem ist doch egal, wer gewählt wird, und zur Wahl zwingen lasse ich mich nicht. Deswegen habe ich mich bisher auch nicht registrieren lassen“, sagt Juan Herrera.
Chile lebt noch immer mit zwei politischen Mumien – einer der Gründe, weshalb mehr als die Hälfte der Bevölkerung an der Politik und den Wahlen keinerlei Interesse zeigt. Die Pinochet-Verfassung von 1980 legt eine Wählerregistrierung fest, die zur Wahlpflicht führt, deren Nichtbefolgung mit einer Geldstrafe geahndet werden kann. Ergebnis: Immer weniger Menschen, vor allem JungwählerInnen, lassen sich überhaupt registrieren. Nicht einmal ein Viertel der Wahlberechtigten unter 30 Jahren hat sich eingeschrieben. Sie schreckt zudem das noch immer geltende binominale Wahlsystem ab, ein Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, das einst dazu gedacht war, den Rechten eine Mehrheit in der Legislative zu garantieren. Je zwei Kandidaten pro Wahlkreis ziehen ins Parlament ein. Dabei zählt nicht, wie viel Prozent den zweiten Kandidaten überhaupt gewählt haben, sondern nur, dass er zweiter wurde. Mit diesem System rechnete die Rechte damit, selbst bei einem Sieg linker Parteien stets mindestens einen Abgeordneten stellen zu können. Dies war nur durch die Gründung sehr starker Koalitionen, die dann jeweils zwei Listenplätze ergatterten, zu durchbrechen. So entstand das Zweikoalitionensystem Chiles, das bis heute anderen Bewegungen keinen Platz ließ.

Nun schert die Alianza aus und tritt mit zwei Kandidaten an. Wenige Monate vor der Wahl wurde zudem ein Gesetzesentwurf diskutiert, der das Wahlsystem derart erweitert, dass auch kleineren Parteien eine Chance gegeben wird. Konkretisiert wurde er allerdings genauso wenig wie das Versprechen von Präsident Ricardo Lagos, die Wählerregistrierung zu reformieren. Bislang bleibt es bei Lippenbekenntnissen, denn das jetzige System nützt den etablierten politischen Strukturen beider Seiten. „Chile ist alternativlos“, sagt Juan. „Trotz des Endes der Alianza haben wir nach wie vor nur die Wahl zwischen rechtem und linkem Block. Schattierungen gibt es da keine. Ich habe diese Spaltung satt“, beschwert er sich.
In Chile wie in Argentinien haben sich alte politische Strukturen überholt. Sie entsprechen schon lange nicht mehr den Interessen und den Bedürfnissen der Bevölkerung. Dass sich langsam etwas ändert, liegt mit daran, dass die WählerInnen abspringen, dass sie nicht mehr bereit sind, im herkömmlichen System zu agieren. Doch der politische Umbruch geht nur langsam vonstatten, das politische Establishment klammert sich an die Macht.

Antje Krüger ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie hielt sich in den letzten Jahren mehrmals längere Zeit in Argentinien und Chile auf.

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