Russland schlittert zurück in einen Regierungsstil, der an die Sowjetzeit erinnert – ein Déja-vu für alle, die mit dem Kalten Krieg aufgewachsen sind: Ein neuer starker Mann im Kreml, Präsident Wladimir Putin, verstärkt seine Kontrolle über die Gesellschaft, unterdrückt unabhängige Organisationen, macht die Presse mundtot, sagt Wahlen ab und will Nachbarländern den Willen Russlands aufzwingen. Bloß gibt es keine Spur der kommunistischen Ideologie, mit der die strenge Reglementierung der Gesellschaft und das autoritäre System der früheren UdSSR gerechtfertigt wurde. Vielmehr versichert Putin, er versuche, die russische Demokratie aufzubauen, unterstützt jedoch einen stärkeren Staat und mehr Macht für die Sicherheitskräfte. Sein Argument, das auch jüngeren LeserInnen vertraut sein wird: der Kampf gegen den Terrorismus.
Die Gefahr ist real. Während der letzten fünf Jahre, etwa die Regierungszeit Putins, erlebte Russland eine Reihe schrecklicher Terroranschläge auf ZivilistInnen. In jedem Fall reagierte der Kreml mit einer Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und Rechte – was Putin mit düsteren Warnungen rechtfertigte, Russlands Überleben sei in Gefahr. Nach der Erstürmung einer besetzten Schule im südrussischen Beslan im vergangenen September, bei der Hunderte Kinder ums Leben kamen, sagte Putin die Gouverneurswahlen in den 89 Regionen Russlands ab, ließ die Bewegungsfreiheit der BürgerInnen einschränken und verhängte über die Unruheregion im Nordkaukasus eine Art Ausnahmezustand.
„Russland war zu schwach“, meinte Putin in einer Fernsehrede nach der Tragödie von Beslan. „Und die Schwachen bekommen Prügel.“ Was es an unabhängigen Umfragen – trotz ihrer drastischen Einschränkung – noch gibt, scheint zu zeigen, dass die meisten RussInnen mit Putins Politik der starken Hand einverstanden sind. Die Zustimmung zu Putin sank in den letzten fünf Jahren nur selten unter 70 Prozent. Doch selbst offizielle Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit die Entscheidung Putins ablehnt, die Gouverneurswahlen abzusagen, und mehr als 40 Prozent nicht an eine „gewaltsame Lösung“ des jahrzehntealten Konflikts in Tschetschenien glauben, dem Kern des Terrorproblems in Russland.
„Zweifellos hat der Terrorismus wesentlichen Anteil daran, dass sich die Bevölkerung nach einer starken Hand sehnt, die Ordnung schafft“, meint Sergej Kasjonow vom unabhängigen Institut für nationale Sicherheit und strategische Forschung in Moskau. „Die Menschen betrachten den Verlust an Freiheit als eine Steuer, die man für die Sicherheit zahlen muss. Und es ist klar, dass die Russen nach den traumatischen Ereignissen mehr als bereit sind, diesen Preis zu bezahlen.“ Für Sergej Michejew vom Moskauer Zentrum für politische Technologien wiederum ist der Zusammenhang zwischen dem Terrorismus und der Politik Putins „ein wenig konstruiert“: Ihr Hauptziel sei es, „den post-sowjetischen Niedergang Russlands zu stoppen und den Staat zu stärken, um unsere verlorene wirtschaftliche, wissenschaftliche und geopolitische Stellung zurückzugewinnen. Wenn Sie das Autoritarismus nennen wollen, in Ordnung, aber diese autoritären Trends wären auch ohne Terrorismus aufgetreten“.
Im Herbst 1999, Putin war Regierungschef und mutmaßlicher Erbe des unbeliebten und schwächelnden Boris Jelzin, wurde Russland von einer Reihe nächtlicher Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und zwei weiteren Städten erschüttert, die beinahe 300 Menschen das Leben kosteten. Für die Anschläge wurden Tschetschenen verantwortlich gemacht, wenn auch die Täter nie identifiziert werden konnten. Unter der persönlichen Aufsicht Putins marschierten russische Truppen zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts in Tschetschenien ein.
Der Krieg erwies sich als äußerst populär. Binnen weniger Monate besetzten russische Einheiten den Großteil der kleinen, hauptsächlich muslimischen Republik und machten damit die beschämende Niederlage wieder gut, die Moskau Mitte der 1990er Jahre zum Rückzug aus Tschetschenien gezwungen hatte. Mit diesem Sieg im Rücken gewann eine erst einige Monate zuvor gegründete Pro-Putin-Partei die Parlamentswahlen, während Putin im März 2000 in einem Erdrutschsieg zum Präsidenten gewählt wurde.
Doch der zweite Tschetschenien-Krieg, nun bereits in seinem sechsten Jahr, verwandelte sich in eine grausame Aufstandsbekämpfung. MenschenrechtsbeobachterInnen warfen Moskau vor, systematische Gräueltaten gegen tschetschenische ZivilistInnen zu verüben und die kleine Republik einem brutalen Besatzungsregime zu unterwerfen. Zumindest ein Flügel der Rebellen unter Schamil Basajew setzt zunehmend auf terroristische Racheakte gegen russische ZivilistInnen. In den letzten fünf Jahren starben bei tschetschenischen Selbstmordanschlägen auf Züge, U-Bahnen, ein Rockkonzert und zwei Flugzeuge weit über 1.000 Menschen. Hunderte weitere Todesopfer forderten blutig beendete Geiselnahmen – 2002 in einem Moskauer Theater und vergangenen September in der Schule in Beslan.
Putin unterwarf die blühende russische Medienlandschaft wieder staatlicher Kontrolle, vermied dabei aber sowjetische Methoden. Der unabhängige Fernsehsender NTV wurde von der staatlich kontrollierten Gasprom im Rahmen eines „Geschäftsstreits“ übernommen, während zwei kleineren Stationen vom Presseministerium ein Sendeverbot erteilt wurde. Kritische Zeitungen, Magazine und Medienpersönlichkeiten verschwanden nach und nach aus der Öffentlichkeit, während sich die Berichterstattung der großen Medien zusehends vereinheitlichte und auf die Kreml-Linie einschwenkte. Der Prozess der „Homogenisierung“ der russischen Presse ist weiter im Gange.
Inwiefern die Zwangsjacke für die russischen Medien den Kampf gegen den Terrorismus unterstützt, bleibt unklar. Der Kreml behauptet jedenfalls, dass dem so sei. Als russische Sicherheitskräfte im Oktober 2002 ein Theater in der Moskauer Innenstadt stürmten, wo tschetschenische Rebellen 800 Geiseln in ihrer Gewalt hielten, und durch das dabei eingesetzte Giftgas 129 Menschen ums Leben kamen, beschuldigte Putin NTV, mit seinen Live-Berichten „den Terroristen geholfen“ zu haben. NTV-Direktor Boris Jordan wurde entlassen und durch einen früheren Kreml-Funktionär ersetzt. Letztes Jahr wurde der beliebte Herausgeber der Tageszeitung Iswestija, Rem Schachirow, gefeuert, nachdem der Kreml ihm „sensationalistische“ Berichterstattung über die Beslan-Tragödie vorgeworfen hatte. Eine Reihe von Spionageprozessen, angestrengt vom russischen Sicherheitsdienst FSB, endete mit harten Urteilen gegen eine Handvoll kritischer JournalistInnen, UmweltaktivistInnen und WissenschaftlerInnen – als abschreckendes Beispiel für andere, wie KritikerInnen meinen.
Unter Putin nutzte die russische Regierung ihre beinahe vollständige Kontrolle über die Medien und ihre Machtressourcen zur Einschüchterung und Ausschaltung oppositioneller Parteien und ihrer Finanziers. Das Strafverfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowsky und sein Unternehmen Jukos wurde eingeleitet, nachdem Behörden dem Konzernchef vorgeworfen hatten, oppositionelle Zeitungen, Menschenrechtsgruppen und die kleine liberale Partei Jabloko zu unterstützen. Chodorkowsky drohen zehn Jahre Haft wegen seiner mutmaßlichen Mitwirkung an illegalen Privatisierungen in den „wilden“ 1990er Jahren. Jukos wurde in den Konkurs getrieben, filettiert und dürfte über kurz oder lang der Gasprom einverleibt werden. Gleichzeitig jedoch bleiben andere russische „Oligarchen“, die durch zwielichtige Geschäfte enormes Vermögen anhäuften, rechtlich unbelangt, solange sie der Linie des Kreml folgen und die Putin-Partei Vereinigtes Russland unterstützen.
Das Putin-System, für den Kreml eine „gelenkte Demokratie“ und für Oppositionelle eine „Diktatur“, war bisher bemerkenswert erfolgreich. Parallel zum wirtschaftlichen Aufschwung – die russische Wirtschaft. die in den 1990er Jahren auf die Hälfte geschrumpft war, wuchs in den letzten fünf Jahren um mindestens sechs Prozent jährlich – verbesserte sich auch das internationale Ansehen Russlands. Insbesondere half dabei, dass sich Putin nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Anti-Terror-Koalition von US-Präsident George W. Bush anschloss. Die Kreml-Partei „Vereinigtes Russland“ sicherte sich bei den Wahlen im Dezember 2003 eine Zweidrittelmehrheit, während die ehemals mächtige Kommunistische Partei halbiert wurde und zwei kleine liberale Parteien überhaupt aus dem Parlament flogen. Drei Monate später wurde Putin ohne nennenswerten Gegner mit 71 Prozent der Stimmen wiedergewählt.
Im Gefolge der Beslan-Tragödie legte Putin dem Parlament eine ganze Reihe drastischer Anti-Terror-Gesetze vor, die unterdessen großteils von der Regierungsmehrheit abgesegnet wurden. Außerdem wurde das aus der Jelzin-Ära stammende Verbot einer Parteizugehörigkeit staatlicher Funktionäre aufgehoben, was eine Flut von Beitritten zur Partei „Vereinigtes Russland“ auslöste. Manche ExpertInnen befürchten nun eine Rückkehr zu einem Einparteiensystem nach sowjetischem Muster.
Ein anderes Gesetz schränkt die Möglichkeiten für regierungsunabhängige Organisationen ein, sich aus dem Ausland zu finanzieren, und schreibt detaillierte Berichte über die Verwendung ausländischer Spendengelder vor. Eine weitere Gesetzesvorlage würde die strafrechtliche Verfolgung in Russland lebender AusländerInnen einschließlich JournalistInnen ermöglichen, die im Ausland „das Ansehen Russlands herabwürdigen“. Und schließlich würde ein derzeit diskutiertes Anti-Terrorgesetz den Behörden erlauben, in jeder russischen Region für 60 Tage einen Ausnahmezustand bloß auf den Verdacht hin zu erklären, dass ein Terroranschlag geplant werde.
„In einer freien Gesellschaft kann die Bedrohung durch den Terrorismus vielleicht zu einigen Einschränkungen der Bürgerrechte führen“, meint dazu Pavel Felgenhauer, ein unabhängiger Sicherheitsexperte in Moskau. „Zumindest ist mir bekannt, dass diese Debatte in anderen Ländern geführt wird. Aber was sich vor unseren Augen in Russland abspielt, sind nicht einige wenige Einschränkungen, sondern die komplette Liquidierung von Demokratie und Freiheit.“
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