Müll sammeln in Pune

Von Rainer Hörig · · 2006/10

Für viele gehört das Einsammeln von Müll zu den entwürdigendsten Arbeiten überhaupt. Für Millionen von Menschen ist es die einzige Möglichkeit, zu einem bescheidenen Einkommen zu gelangen. Ihre Tätigkeit ist zumeist informell und unterbezahlt. Der Journalist Rainer Hörig hat sich den Alltag von MüllsammlerInnen in der Stadt Pune, Indien, genauer angeschaut.

Tag für Tag schleppt sie ihren Sack kilometerweit durch die Straßen der Großstadt. Mit den Augen einer Jägerin sucht die zierliche Frau Straßengräben, Müllcontainer und Hinterhöfe nach verwertbaren Abfällen ab. Glasflaschen, Plastikkanister und Zeitungsreste wandern in ihren schmutzig-weißen Plastiksack. Dabei ist sie stets auf der Hut vor korrupten Polizisten, die Schmiergeld fordern. „Hin und wieder verletze ich mich an Glassplittern oder Rasierklingen“, klagt die Mittvierzigerin. „Am gefährlichsten ist die Arbeit während der Regenzeit, wenn alles glitschig wird und die Krankheitserreger in den Müllhaufen gedeihen. Es stinkt, dass es einem übel wird.“
Mainabai Narwade ist Müllsammlerin, eine von etwa 7.000 in der Drei-Millionen-Stadt Pune, 125 Kilometer südöstlich von Mumbai (Bombay) im Dekkhan-Hochland. In ganz Indien sind schätzungsweise 1,5 Mio. Menschen gezwungen, auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Über 90 Prozent sind Frauen, fast alle gehören der Gemeinschaft der Dalits an („die Gebrochenen“), wie sich die Unberührbaren heute nennen. In einem Land, das weder Sozialhilfe noch Arbeitslosenversicherung kennt, stellt das Müllsammeln die letzte Rettung vor dem Verhungern dar.
Mainabai etwa wurde in Folge einer Naturkatastrophe Müllsammlerin: „Ursprünglich stamme ich aus einem kleinen Dorf, über 500 Kilometer östlich von hier“, erklärt sie redegewandt. „Während der schrecklichen Dürre von 1972 verloren wir unser Land und flohen nach Pune in der Hoffnung, hier unser Glück zu finden.“

Für Mainabai und ihre Kolleginnen liegt das „Glück“ buchstäblich auf der Straße. Der durchschnittliche Tagesverdienst beträgt 75 Rupien, umgerechnet etwas mehr als ein Euro. Aber frau muss früh aufstehen, denn wer als erste kommt, findet die besten Stücke. Vom frühen Morgen an streifen sie durch die Stadt, mittags sortieren sie ihre Beute und liefern sie beim Schrotthändler ab. Erst am Nachmittag kehren die Müllsammlerinnen heim, wo schreiende Kinder und hungrige Ehemänner warten. „Wir wohnen in einem Slum nicht weit von hier“, berichtet Mainabai. „Mit der Familie meiner Schwester teilen wir eine drei mal drei Meter große Wellblechhütte. Insgesamt sind wir zehn Personen. Der Slum hat Gemeinschaftstoiletten und Stromanschluss. Wir besitzen auch einen Schwarzweiß-Fernseher.“ Stolz blitzt aus ihren Augen.
In jeder indischen Stadt sind MüllsammlerInnen unterwegs – ausgemergelte, zerzauste Gestalten, die von den meisten gemieden werden. „Viele Menschen empfinden zwar Mitleid angesichts ihrer erbärmlichen Lebensbedingungen, aber kaum jemand fühlt sich für ihr Los verantwortlich“, konstatiert die Hochschullehrerin Laxmi Narayan, die MüllsammlerInnen in Pune dabei unterstützt, sich zu organisieren. „Sie entsorgen täglich 150 Tonnen Abfall in dieser Stadt, das macht ein Sechstel des gesamten Abfallberges aus. Sie helfen somit der Stadtverwaltung, Kosten zu sparen. Außerdem führen sie der Recycling-Industrie Rohstoffe zu und halten die Stadt sauber. Unglücklicherweise werden ihre Dienste jedoch nicht anerkannt, weder von der Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen, noch von der Verwaltung.“

Wilde Abfallhalden, überquellende Container, offene Abwasserkanäle – Indiens Städte sind kein Vorbild in puncto Sauberkeit. Viele BürgerInnen klagen, die städtischen Müllabfuhren seien korrupt und ineffizient. Eine Verbrennung des Hausmülls erscheint wegen des hohen Anteils nassen, bio-organischen Mülls nicht lohnend. Die Städte schaffen sich den stinkenden Müll vom Hals, indem sie ihn in riesigen Gruben, meist außerhalb der Stadtgrenzen, deponieren. Aber mit steigendem Wohlstand wächst auch der Abfallberg und vielerorts nähern sich die Deponien ihren Kapazitätsgrenzen. Erst langsam greift ein Bewusstsein um sich, dass der Müll auch Rohstoffquelle ist.
Dem weltweiten Trend zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen folgend versucht die indische Regierung, die Probleme in der Abfallwirtschaft durch „Outsourcing“ zu lösen. In den meisten Metropolen des Landes haben Privatfirmen Teilbereiche der Abfallentsorgung übernommen. Ihre Arbeiter holen den Müll direkt an der Haustür ab, sortieren ihn und führen die Wertstoffe der Recyclingindustrie zu. Die Erfahrungen sind bislang ermutigend. Die betroffenen Stadtteile seien sauberer geworden und die Kosten für die Müllabfuhr gering geblieben, wird argumentiert. Aber es gibt große Verlierer: die MüllsammlerInnen, denen ihre Rohstoffbasis entzogen wird. Aber im Kalkül von MinisterInnen und leitenden BürokratInnen spielt diese kleine, versprengte Randgruppe keine Rolle. AktivistInnen haben daher die Notwendigkeit erkannt, dass sich MüllsammlerInnen organisieren und dass ihnen eine Stimme verliehen wird.

In Pune haben sich rund 5.000 MüllsammlerInnen in der Gewerkschaft Kagad Kach Patra Kashtakari Panchayat, kurz KKPKP zusammengeschlossen. Der „Arbeiterrat für Papier, Glas und Blech“ kämpft seit 1993 für die Anerkennung und die Existenzsicherung von MüllsammlerInnen. Ihrer Forderung nach Registrierung und Autorisierung durch die Ausgabe von Ausweisen verliehen sie 1996 mit einer Menschenkette um das Rathaus Nachdruck. Der Protest hatte Erfolg. Heute besitzen alle MüllsammlerInnen in Pune einen Ausweis, der sie zum Sammeln berechtigt. Zusammen mit der Stadtverwaltung hat die Gewerkschaft das Beschäftigungsprogramm „swachateche warkari“ für MüllsammlerInnen entwickelt, das seit Januar 2005 in einigen Stadtteilen erfolgreich praktiziert wird. Laxmi Narayan, die KKPKP leitet, erläutert, was es mit den „Sauberkeitspilgern“ auf sich hat: „Autorisierte Müllsammler holen den Abfall an der Haustür ab, trennen organischen vom trockenen Müll und verkaufen die Wertstoffe. Die Haushalte zahlen für diesen Dienst eine Monatsgebühr von 5 Rupien (umgerechnet 10 Cent). Die Müllsammler haben dadurch bessere Arbeitsbedingungen und ein sicheres Einkommen.“

Zur Zeit arbeiten 1.000 MüllsammlerInnen als „Sauberkeitspilger“ und entsorgen Glas, Papier und Blech für rund 200.000 Haushalte in Pune. Auch Mainabai trat vor kurzem der Gewerkschaft bei und ist von dem Programm begeistert: „Heute werden wir längst nicht mehr so schmutzig, und es wird uns nicht mehr übel beim Arbeiten. Wir genießen jetzt einen Status als Arbeiterinnen. Früher gab es zwar wertvollere Stücke zu entsorgen, aber die Abgabe durch die Haushalte gleicht den Verlust aus. Auf jeden Fall ist die Arbeit leichter und besser geworden.“
Die Gewerkschaft KKPKP will das Programm auf die ganze Stadt ausweiten. In Zukunft, so das Kalkül, wird die Abfallentsorgung von einer Mischung aus privaten und öffentlichen Firmen dominiert sein. Die Gewerkschaft will sicherstellen, dass die MüllsammlerInnen in dieser Konstellation einen festen Platz einnehmen. Laxmi Narayan: „Wir fordern die Integration von Müllsammlern in die formale Abfallwirtschaft etwa durch eine Lizenzvergabe an Einzelne oder Kooperativen. Die Müllsammler müssen bei der Privatisierung bevorzugt berücksichtigt werden.“

Rainer Hörig lebt als freier Journalist in Pune, Indien.

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