Immer mehr Menschen wollen Abenteuer erleben, andere Kulturen entdecken oder Erholung vom Alltag finden – und zwar zu Fuß. Redakteurin Christina Bell ist dem Wandertrend nachgegangen.
8.000 Kilometer, über 10 Millionen Schritte – das ist die Distanz, die zwei junge Steirer zu Fuß zurücklegten. Durch 18 Länder und drei Kontinente führte Marvin Fritz und Rowin Höfer ihre 20-monatige Reise, mit der sie sie Bewusstsein für Umweltschutz wecken wollten. Carola Bieniek wanderte in fünf Monaten über 4.800 km zwischen Berlin und Biarritz und schrieb dabei mit ihrer Route das Wort „home“ auf eine fiktive Landkarte. Gregor Sieböck, seines Zeichens „Weltenwanderer“, geht seit über zehn Jahren zu Fuß und hat schon mehr als 20.000 Kilometer zurückgelegt. Er ging auf dem Jakobsweg von Österreich nach Portugal, über die Anden, durch Russland oder Neuseeland oder an der Westküste der USA entlang.
Es sind Geschichten wie diese, die die Menschen faszinieren. Im Internet und in Buchläden finden sich unzählige Beispiele von Weltreisenden, die ihren Alltag gegen Abenteuer eintauschen und die Bequemlichkeit moderner Transportmittel zugunsten der ältesten Art menschlicher Fortbewegung aufgeben: dem Zu-Fuß-Gehen. Abgesehen von den wirklich lebensverändernden Varianten, die mutige existenzielle Entscheidungen und einiges an Kondition verlangen, zieht sich der Trend quer durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen: die Wiederentdeckung des Wanderns.
Wege und Ziele. 2014 waren laut der Welttourismus-Organisation UNWTO 1,14 Milliarden Menschen als Urlauberinnen und Urlauber unterwegs. Trotz Krise wächst der Wirtschaftszweig kontinuierlich. Während viele Erholungsuchende preiswerte Flugreisen und Pauschalangebote nützen, nimmt auch die Zahl derer zu, die sich mit eigener Kraft an ihr Ziel bringen wollen. Auf Pilgerwegen, auf denen man früher nur eine Handvoll Gleichgesinnter traf, werden in der Hochsaison nun schon manchmal die Unterkünfte knapp. Geschätzte 100.000 Menschen sind jährlich auf dem Jakobsweg Richtung Santiago de Compostela in Nordspanien unterwegs – in den 1980ern war die Zahl noch dreistellig. Auch abseits der religiös-spirituellen Erfahrung wird den modernen FußgängerInnen einiges geboten: von Bildungswandern über Barfuß- oder Nacktwandern, Sternenwandern, Wandern zur Hirschbrunft oder den Nordlichtern bis zu sportlich anspruchsvollem Trekking oder Bergsteigen – es gibt so ziemlich für jeden Geschmack eine Variante.
Wortlos ganzheitlich. Das konservativ-verstaubte Image hat das Zu-Fuß-Gehen fürs Erste abgelegt. Junge Menschen buchen genauso Wanderreisen oder erkunden am Wochenende die eigene Region wie die Generation ihrer Eltern. Wichtiger als das Ankommen sei dabei der Weg, sagt Christian Hlade, Gründer und Geschäftsführer von Weltweitwandern. Bei dem auf Wanderreisen spezialisierten Reiseveranstalter ging es von Anfang an nicht darum, einen „Berg zu bezwingen“. Das Besondere am Gehen? „Es ist un-esoterisch ganzheitlich“, sagt Hlade, der seine Karriere als Architekt hinter sich ließ, um sich hauptberuflich dem Zu-Fuß-Gehen zu widmen. „Beim Wandern passiert etwas, das nicht viele Worte braucht.“ Es eigne sich zum Nachdenken wie für zwischenmenschliche Kommunikation: „Um sich auszureden, geht man am besten spazieren. Das weiß ja jeder.“
Gehen und fliegen: Die Anzahl der Flugreisen hat eine gewaltige Dimension erreicht, wie das Satellitenbild der gleichzeitig in der Luft befindlichen Flugzeuge zeigt. Reisen zu Fuß sind eine klimafreundliche Alternative – abhängig davon, wie man seinen Ausgangspunkt erreicht. Wandern im Wandel
Die beliebte Freizeitbeschäftigung hat, gerade in Europa, eine bewegte Geschichte: War das Wandern während der Aufklärung Symbol der Emanzipation des Bürgertums, das seine Naturbegeisterung mit Interesse an den sozialen und politischen Gegebenheiten verknüpfte, änderte sich das Motiv während der Romantik: Nun ging es mehr um Landschaft und Selbsterfahrung.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Wander- und Bergvereine gegründet, Schutzhütten, Wanderwege und -karten geschaffen. Die 1895 gegründeten „Naturfreunde“ vermittelten den Sport erstmals den ArbeiterInnen. Etwa zeitgleich entstand die „Wandervogel“-Bewegung, in der sich hauptsächlich StudentInnen und SchülerInnen gegen die gesellschaftlichen Konventionen auflehnten.
Zunehmend ersetzten nationale Komponenten die aufklärerischen Motive. Der Pädagoge und „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn propagierte das Wandern in Gruppen als Volksbildung. Diese Lesart fand sich in der nationalistischen Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der nationalsozialistischen Propaganda wieder und wurde ideologisch weiter überhöht. Nach Ende der Naziherrschaft wurde die oft unrühmliche Rolle der Gebirgsvereine nicht oder kaum thematisiert. Erst ab den 1990ern begannen die ersten Vereine, etwa der Österreichische und Deutsche Alpenverein, mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte. cbe
Bereits in den 1990ern konstatierte Autor Wolfang Wehab eine „Renaissance des Gehens“. Die neue Generation von FußgängerInnen sei heterogen, das Gehen Ausdruck eines vom Mainstream abgehobenen Lebensstils, hielt er in seiner „Kulturgeschichte des Gehens“ fest. Dabei gehe es vor allem um einen anderen Umgang mit Sinnes- und Körper-erfahrungen. Heute wandern viele, die bewusst Natur erleben wollen. Das Zu-Fuß-Gehen ist oft Ausdruck einer Sehnsucht nach dem einfachen Leben, nach Kontakt mit der Natur, nach Entschleunigung sowie sozial- und umweltverträglicherem Tourismus. Was natürlich konterkariert wird, wenn EuropäerInnen nach Patagonien oder Südafrika fliegen, um sich die Wanderschuhe anzuziehen. Eine Kompensation der durch Flugreisen entstehenden CO2-Emissionen, bei denen entfernungsabhängige Preisaufschläge Klimaschutzprojekte finanzieren, kann diesen Widerspruch höchstens mildern.
Soziale Codierung. Gedanken über den ökologischen Fußabdruck des Reisens sind ein junges Phänomen und eher den „Luxusproblemen“ höher gebildeter Menschen zuzurechnen. Auch das Wandern spiegelt gesellschaftliche Realitäten und Moden wider: So hat in den reicheren Ländern das Zu-Fuß-Gehen nur noch bedingt eine Fortbewegungsfunktion, sondern dient eher der Regeneration. Das war freilich nicht immer so: Das jeweilige Transportmittel war lange bezeichnend für den sozialen Status – auch der aus der Militärsprache stammende Begriff „Fußvolk“ kommt nicht von ungefähr. Zu Fuß ging in unseren Breiten zumeist nur, wer keine Wahl hatte. In vielen Ländern des globalen Südens ist das heute noch so. An vielen Ecken der Welt erntet Erstaunen, wer freiwillig zu Fuß geht. Das bestätigt Christian Hlade: „In Marokko oder Oman etwa findet man Wanderer grundsätzlich seltsam. Der jungen Mittelschicht geht es wie in vielen Ländern vor allem um Statussymbole.“ Dies könne sich aber auch rasch ändern, meint Hlade: „Zuerst geht es ums maximale Konsumieren, am besten drei Länder in einer Woche. Dann kommt die Langsamkeit.“ In Indien etwa entdecke der Mittelstand gerade das Wandern. Viele traditionell zu Fuß gehende Kulturen, wie die Massai in Ostafrika oder die Ladakhi in Indien und Tibet, erfahren durch die europäischen WanderurlauberInnen eine unerwartete Aufwertung ihrer eigenen Lebensstile.
Spazierend protestieren. Auch wer seinen Urlaub schon verbraucht oder anderweitig verplant hat oder das Fliegen vermeiden will, muss nicht aufs Zu-Fuß-Gehen verzichten. Im wanderbegeisterten Österreich und seinen Nachbarländern gibt es kaum noch eine Region, Stadt oder Gemeinde, die ohne einen thematisch oder sonst wie hervorgehobenen Wander- oder Spazierweg auskommt. Wien hat das Jahr 2015 zum Jahr des Zu-Fuß-Gehens erklärt. Und macht damit auch auf eine wichtige Komponente aufmerksam: Gerade in Städten geht es beim Gehen oft weniger um Muße als um Platz und Rechte im öffentlichen Raum, Partizipation und Unabhängigkeit. Der britische Journalist und Schriftsteller Will Self bezeichnet das Zu-Fuß-Gehen als Mittel im Kampf gegen die Kontrolle von Unternehmen über unser Leben.
Ist Zu-Fuß-Gehen also auch ein politischer Akt? Beispiele von Protestmärschen in der Geschichte zeigen – ebenso wie die ideologische Vereinnahmung im Lauf der Geschichte (siehe S. 37) –, dass es dafür durchaus Potenzial hat. „Am Ende muss das jeder für sich selbst rausfinden“, relativiert Hlade. „Man tut dem Wandern nichts Gutes, wenn man es zu sehr auflädt.“
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