Noch vor wenigen Jahren galt Kohle in den USA und anderen reichen Ländern als Energieträger von gestern. Erdgas war die Stromlösung der 1990er Jahre – so relativ teuer der Brennstoff auch war, so gering waren die Kapitalkosten für die Errichtung eines Gaskraftwerks. In den USA waren nur 6% der in den 1990er Jahren errichteten neuen Kapazitäten Kohlekraftwerke, und zwischen 2000 und 2002 gar nur 1%. Doch dann geriet ein Großteil der neuen Gaskraftwerke durch hohe Gas- und niedrige Strompreise in die roten Zahlen, und plötzlich wandelte sich das Bild: Allein von Herbst 2004 bis Herbst 2005 wurde in den USA 120 neue Kohlekraftwerksprojekte beantragt, und zahlreiche bereits geschlossene Kohlebergwerke stehen vor einer Reaktivierung.
Eine ganze Reihe von Faktoren sind dafür verantwortlich: die anhaltend hohen Öl- und Gaspreise; geostrategische Überlegungen in Zusammenhang mit drohenden Konflikten um Energieressourcen; die wachsenden Ölimporte Chinas und Indiens, und nicht zuletzt das Überlebensinteresse der Kohlekraftwerksbranche selbst – Entwicklungen, die sich nicht auf die USA beschränken. Die Sicherheit der Versorgung mit importierten Energieträgern wird weltweit als zusehends prekär erkannt. Ob die drohende Gasversorgungskrise in Europa durch den Russland-Ukraine-Konflikt oder die Gasknappheit im März in Großbritannien, die die Preise binnen weniger Tage auf das Vierfache hochschnellen ließ: Alles spricht zwar für einen beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien, aber eben auch für Kohle und Kernenergie. „König Kohle“ ist zweifellos im Aufwind.
Insbesondere aber ist es der rasche Ausbau der Kohlekraftkapazitäten in China und Indien, der seit 2001 für volle Auftragsbücher und eine rasche Zunahme des Kohleverbrauchs sorgt. Beide Länder verfügen nach den USA und Russland über die größten Kohlevorkommen der Welt, ihre Energieinfrastruktur basiert weitgehend auf Kohle, und sie werden im reichen Norden zunehmend als Konkurrenten um scheinbar oder tatsächlich knapp werdende Energieressourcen, ob Öl, Gas oder Uran wahrgenommen. Kein Wunder, dass sie weiter auf Kohle setzen.
Die hohen Ölpreise haben bereits Technologien wie die Synthese flüssiger Brennstoffe aus Kohle wettbewerbsfähig gemacht, die seit dem Zweiten Weltkrieg nur im kohlereichen Südafrika in großem Maßstab praktiziert werden – ein Nebeneffekt der Sanktionen gegen das Apartheidregime. China ist dabei, sowohl auf direkter Verflüssigung sowie auf Kohlevergasung beruhende Technologie in mehreren Werken anzuwenden, und zuletzt wurden in mehreren US-Bundesstaaten wie etwa Ende März in Montana entsprechende Projekte präsentiert. Kohle als Energieträger erscheint zusehends als ideales Instrument einer vorbeugenden De-Eskalation drohender Ressourcenkonflikte: Im Unterschied zu Öl und Erdgas ist eine weltweite Verknappung von Kohle in diesem Jahrhundert kaum zu erwarten, und dass es im Mittleren Osten praktisch nichts davon gibt, ist auch kein Nachteil.
Der Kohleboom könnte daher auf längere Sicht anhalten. Bis 2030 wird ein großer Teil des Kraftwerksparks in den OECD-Ländern altersbedingt stillgelegt und ersetzt werden müssen. Weltweit waren 2002 mehr als 60% der Kohlekraftwerke älter als 20 Jahre, in Europa 70% und in Deutschland 60%. In der EU (EU-15) wird der Ersatzbedarf zwischen 2010 und 2030 auf insgesamt 200 Gigawatt (Mio. kW) geschätzt, allein in Deutschland auf 40 GW. Nach einem Szenario der Internationalen Energieagentur (IEA) von 2002 könnten bis 2030 weltweit neue Kohlekraftwerke mit mehr als 1.400 GW Kapazität in Betrieb gehen.
Aus Sicht des Klimaschutzes eine fatale Entwicklung. Aufgrund der hohen technischen Lebensdauer von Kohlekraftwerken von 50 Jahren oder mehr würden damit Emissionen von rund 130 Mrd. Tonnen Kohlenstoff (Gigatonnen, GtC) im Vorhinein fixiert. Das wären etwa 40% der gesamten CO2-Emissionen seit dem Jahr 1700 und ein beachtlicher Teil des „Emissionsbudgets“, das nach Schätzungen des International Panel on Climate Change (IPCC) für die Periode 2000-2100 zur Verfügung steht: je nach Klimasensitivität zwischen 380 und 1.950 GtC. Allein die Kohlekraftwerke, die zwischen 2002 und 2020 in China hinzukommen sollen, würden insgesamt mehr als 100 Mrd. Tonnen CO2 emittieren.
Alle diese Entwicklungen haben nun „Clean Coal“-Techniken bzw. Konzepten von „Zero-Emissions“-Kraftwerken zu neuer Prominenz verholfen, die auf einer weitgehenden Abscheidung und geologischen Speicherung der CO2-Emissionen beruhen. Während die Abscheidung technisch keine Probleme bereitet, muss der Nachweis einer sicheren Speicherbarkeit erst erbracht werden. (Siehe Artikel S. 35)
Dass sich Energiekonzerne in den reichen Ländern mit bedeutenden Kohlekraftwerksparks für „emissionsfreie“ Kohletechnologien interessieren, hat einen guten Grund: Mit ihrem Beitrag zur „Versorgungssicherheit“ und zu aktuellen oder zukünftigen Verpflichtungen zur Reduktion der Kohlendioxid-Emissionen kann sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei politischen EntscheidungsträgerInnen gepunktet werden. Dass die Kosten von CO2-Emissionszertifikaten im Rahmen des Emissionshandels in der EU Anfang April bei 28€ pro Tonne CO2 lagen, ist ein weiteres schlagendes Argument.
Insofern war es wenig überraschend, dass mit dem deutschen Energiekonzern RWE gerade das Unternehmen mit dem höchsten Kohlekraftanteil der EU (ca. 60%) Ende März ein „CO2-freies Großkraftwerk inklusive CO2-Speicherung“ für 2014 ankündigte, das bevorzugt deutsche Braunkohle verbrennen soll. Schon 2011 soll das von der US-Regierung geförderte Kraftwerksprojekt der Unternehmensallianz FutureGen mit dem identischen Ziel in Betrieb gehen, an dem übrigens u.a. China HuaNeng beteiligt ist, der größte chinesische Kohlekraftwerkskonzern.
FutureGen wird ein IGCC-Kraftwerk („Integrated Gasification Combined Cycle“) sein, eine Technologie, die es bereits seit den 1980er Jahren gibt, aber im Energiesektor bisher kaum eingesetzt wurde. Sie beruht nicht auf der Verbrennung, sondern auf der Vergasung von Kohle. IGCC-Kraftwerke bieten vielfältige Vorteile: Mit ihnen können die umwelt- und gesundheitsschädlichen Emissionen einer Staubfeuerung (u.a. Schwefel- und Stickoxide, Quecksilber, Feinstaub) weitgehend vermieden, Biomasse mitverfeuert und auch Wasserstoff oder flüssige Brennstoffe erzeugt werden; insbesondere lassen sie sich am kostengünstigsten mit einer CO2-Abscheidungsanlage nachrüsten.
Dass IGCC-Kraftwerke bisher kaum gebaut wurden, wird u.a. mit ihren höheren Investitionskosten begründet. Sie wären wohl aber bereits seit langem konkurrenzfähig, wenn die Energieversorger die gesamten Umwelt- und Gesundheitskosten konventioneller Kohlekraftwerke tragen müssten. Die reichen in der EU laut einer Studie der Kommission bis zum Doppelten der aktuellen Gestehungskosten (inklusive CO2-Emissionen).
Nun scheint aber in den USA etwas Bewegung in die Sache zu kommen. In letzter Zeit haben einige Energiekonzerne IGCC-Kraftwerke (ohne CO2-Abscheidung) in Auftrag gegeben, und bei einer Konferenz zur Klimaerwärmung im Senat Anfang April sprachen sich sechs von acht US-Energiekonzernen für gesetzliche Kohlenstoffemissionsgrenzen aus, darunter General Electric, Shell und die beiden Energieversorger Exelon und Duke Energy. Die beiden anderen, Southern Company und American Electric Power (AEP), befürworteten nur freiwillige Beschränkungen.
Doch selbst ein AEP-Sprecher erklärte, angesprochen auf IGCC, dass zwar die Investitionskosten höher seien als bei konventionellen Kraftwerken. „Aber wenn man berücksichtigt, was wahrscheinlich während der Lebensdauer des Kraftwerks passiert, wird es besser sein, in ein IGCC zu investieren. Mit gesetzlichen Emissionsgrenzen ist das eine aufgelegte Sache.“ Mit Emissionsgrenzen, so die Einschätzung von General Electric, könnte der US-Markt für IGCC-Kraftwerke zwischen 2010 und 2020 einen Umfang von mehr als 100 Mrd. Dollar erreichen.
„Zero-Emissions“-Kohlekraftwerke stehen in einem Spannungsverhältnis zu den Ausstiegsszenarien von Umweltorganisationen wie Greenpeace und dem World Wide Fund for Nature (WWF). Für sie ist das beste Kohlekraftwerk ein eingespartes Kohlekraftwerk. Sie plädieren im Wesentlichen für eine Nutzung sämtlicher Einsparungspotenziale und einen möglichst raschen Ausbau erneuerbarer Energien wie Windkraft und Biomasse. Das ergibt in der Regel wesentlich geringere Zuwächse des Strombedarfs oder sogar Verringerungen. Nach einem 2003 veröffentlichten „Powerswitch“-Szenario des WWF könnten in den USA zwischen 2000 und 2020 Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von rund 140 GW eingespart werden, und ein WWF-Szenario für die EU-25 von Oktober 2005, „Target 2020“, sieht eine Senkung des Strombedarfs um 0,4% jährlich vor.
Über Clean Coal und IGCC ist in Publikationen von Greenpeace und WWF dagegen kaum etwas zu finden. Hier scheinen Welten aufeinander zu prallen, denn ob in der Branche selbst, in Washington, Brüssel, Beijing, in der Internationalen Energieagentur (IEA) über die Weltbank bis hin zum IPCC hat das Thema in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Das Augenmerk liegt dabei insbesondere auf China und Indien. Beide Länder sind in hohem Ausmaß auf Kohle angewiesen und dürften bald für mehr als die Hälfte des weltweiten Verbrauchs verantwortlich sein. Die Einführung „emissionsfreier“ Kohletechnologien inklusive CO2-Sequestrierung wird daher als einziger Weg betrachtet, das wirtschaftliche Wachstum der beiden Länder mit dem Klimaschutz in Einklang zu bringen.
Wie das allerdings gelingen soll, ist noch unbeantwortet. IGCC-Kraftwerke haben sich noch nicht einmal in reichen Ländern durchgesetzt. Daher wird in China und Indien derzeit die aktuelle Kohlekraftwerkstechnik auf Basis von Staubfeuerung installiert, die damit den Kraftwerkspark der nächsten 50 Jahre zu dominieren droht. Diese Kraftwerke eignen sich laut Branchenexperten jedoch kaum für eine Nachrüstung mit CO2-Abscheidung. Sie würde nach bisherigem Stand der Technik ihren Wirkungsgrad zu stark verringern und ihren Betrieb unwirtschaftlich machen.
Eine andere Option bestünde in der Umstellung der Stromproduktion auf Polygenerationswerke, die ebenfalls auf Kohlevergasung beruhen, in China durchaus wettbewerbsfähig wären und zu geringen Kosten mit einer CO2-Abscheidung nachgerüstet werden könnten. Zu dieser Option scheint sich China aber bisher nicht durchgerungen zu haben. (Siehe Artikel S. 33). Ob der Traum der „sauberen“ Kohle wahr wird, ist noch nicht ausgemacht.