Junge Männer in den USA und Großbritannien haben keine Angst mehr, ihre Gefühle offen zu zeigen. Ein Bericht von Mark McCormack und Eric Anderson.
Es war ein besonderer Tag für Martin, sein 18. Geburtstag. Sein bester Freund, Justin, ein Mitglied der Fußballmannschaft, hatte ihm mehrere Geschenke gekauft. Andere Klassenkollegen hatten sich versammelt und sahen zu, wie Martin die Geschenke auspackte. Mitten im Auspacken wurde Martin plötzlich von der Großzügigkeit seines Freundes überwältigt, und er umarmte ihn vor all seinen anderen Freunden.
Zu diesem Ereignis kam es in einer Abschlussklasse eines Gymnasiums in England, an einem gewöhnlichen Schultag. Martin und Justin, beide beliebte heterosexuelle Schüler, drückten die Zuneigung, die sie für einander empfanden, völlig offen und vor aller Augen aus. Bedenkt man, dass sich Männer aufgrund der allgegenwärtigen Homophobie in der Regel gezwungen fühlten, in der Öffentlichkeit möglichst keine Gefühle zu zeigen, könnte man meinen, die Szene sei bloß ein Märchen. Sie entspricht aber der alltäglichen Lebenswelt männlicher Jugendlicher in drei Abschlussklassen im Süden Englands, die wir innerhalb eines Jahres erfasst und dokumentiert haben.
Nach förmlichen Interviews mit 44 Schülern und Gesprächen mit hunderten anderen stellten wir fest, dass die Fähigkeit, Gefühle zu zeigen, unter den Jugendlichen als geschätzte Eigenschaft galt. Über seine Freunde meinte etwa Rob: „Ich könnte mit jedem von ihnen ein ernsthaftes Gespräch führen, aber dabei auch immer etwas zu lachen haben.“ Dem pflichtete Tim bei und fügte hinzu: „Mit meinen besten Freunden rede ich über alles … es ist echt wichtig für mich, dass ich das kann.“ Und der Gefühlsaustausch beschränkte sich nicht auf den Ausdruck freundschaftlicher Zuneigung, sondern umfasste auch Ängste und Sorgen.
Diese Fähigkeit, über Gefühle zu reden, ist Teil eines erweiterten Repertoires von Verhaltensweisen, die Jugendliche an diesen Schulen zeigen können, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Neben dem Gespräch über Themen, die oft als typisch „weiblich“ gelten, legten die Schüler auch großen Wert auf ihr Äußeres. Viele färbten sich nicht nur die Haare, sondern diskutierten über die besten Haarmittel und Feuchtigkeitscremen, trugen T-Shirts, die ihre schlanken Körper betonten, und tief sitzende Jeans, die Designer-Unterwäsche erkennen ließen.
Homophobie war an diesen Schulen in keiner Weise zu bemerken, und alle Schüler hatten positive Einstellungen zur Homosexualität. Heterosexuelle Jugendliche unterhielten gute Freundschaften mit schwulen Mitschülern, und in einer Abschlussklasse wurde ein offen homosexueller Schüler zum Klassensprecher gewählt. Das entspricht Daten aus einem anderen Projekt, bei dem wir bisexuelle Jugendliche aus 30 Schulen in ganz Großbritannien interviewten. Natürlich ist es möglich, dass es unter jüngeren Schülern homophobe Einstellungen gibt, aber die Veränderungen bei den 16- bis 18-Jährigen sind signifikant und tiefgreifend.
Der Unterschied zum schulischen Alltag in den 1980er und 1990er Jahren könnte deutlicher nicht sein. Damals war Homophobie verbreitet, und schwule Schüler hielten ihre sexuelle Orientierung geheim. Die Angst, für einen Schwulen gehalten zu werden, war damals so stark, dass männliche Jugendliche zu allem bereit waren, um dieses Stigma zu vermeiden.
Ihren Höhepunkt erlebte die Homophobie Ende der 1980er Jahre, als der Rückschlag in Gestalt der Stereotypisierung von Aids als Schwulenkrankheit auf fatale Weise mit der vorherrschenden konservativen Politik und dem Aufstieg der christlichen Rechten zusammenwirkte. Damals zeigten Daten des General Social Survey (der allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den USA; Anm. d. Red.), dass 70 Prozent der AmerikanerInnen glaubten, Homosexualität sei „immer falsch“. Rechnet man noch die kulturelle Identifizierung von Männlichkeit mit Heterosexualität hinzu, also die Auffassung, „weibliche“ Verhaltensweisen von Männern seien ein Beweis ihrer Homosexualität, ist es nicht überraschend, dass britische und US-amerikanische Männer jedes Verhalten mieden, das als „unmännlich“ eingestuft werden könnte. Viele heterosexuelle Männer verhielten sich daher aggressiv, sprachen vermehrt über ihre heterosexuellen Begierden, legten Homophobie an den Tag – alles, um zu „beweisen“, dass sie nicht schwul waren.
Als dann jedoch die Homosexuellenbewegung Schwule zum „Coming out“ ermutigte, waren heterosexuelle Männer nach und nach mit immer mehr Männern konfrontiert, die sich offen zu ihrer homosexuellen Orientierung bekannten: in der Arbeit, im Fernsehen, im Internet. In dem Maße, in dem Homosexualität nicht mehr als „abstoßend“ empfunden wurde, ließ auch die Homophobie der heterosexuellen Männer nach. Mit der zunehmenden Toleranz der Homosexualität verloren auch die Schranken gegen emotionale Offenheit und körperlichen Kontakt mit Freunden ihre Bedeutung. Das Nachlassen der Homophobie und ganzheitlichere Männlichkeitskonzepte verstärkten sich gegenseitig, mit dem Ergebnis einer Offenheit gegenüber körperlichen Berührungen und Gefühlen, wie sie beispielhaft von den Jugendlichen in unserer Studie gelebt wird.
Auch wenn der Rückgang der Homophobie ein ungleichmäßig verlaufender gesellschaftlicher Prozess ist und unsere Studien sich auf Jugendliche aus der weißen Mittelschicht konzentrierten, glauben wir dennoch, dass Jugendliche in den USA und Großbritannien heute in einem Umfeld aufwachsen, das sich gegenüber früher signifikant geändert hat. Neben der Untersuchung der drei Abschlussklassen haben wir auch an zahlreichen Projekten in beiden Ländern mitgearbeitet. Ob Männer in einer US-Studentenverbindung, Studenten einer britischen Universität, Fußballer aus allen Winkeln der USA oder britische Rugby- und Fußballteams, überall konnten wir diesen Rückgang der Verbreitung und Bedeutung der Homophobie und die korrespondierende Enthärtung der Männlichkeitskonzepte konstatieren.
Unsere Forschungsergebnisse lassen sich auch anhand des Fernsehprogramms verifizieren. „Big Brother“ etwa hatte in Großbritannien einen homosexuellen und einen transsexuellen Sieger, und die letzten Stars der Castingshow „X Factor“, fünf 16- bis 18-jährige Jugendliche, die sich „One Direction“ nennen, umarmen sich und weinen vor den Augen aller ihrer Fans. Unterdessen gibt es in Seifenopern von „Hollyoaks“ bis „Coronation Street“ regelmäßig homosexuelle Charaktere, deren sexuelle Orientierung zu etwas Alltäglichem geworden ist. In den USA wiederum haben Sitcoms wie „Will & Grace“ die Darstellung von Homosexuellen im Fernsehen erheblich verbessert.
Diese Veränderungen werden auch von Erhebungen der Einstellungen zur Homosexualität sowohl in den USA als auch in Großbritannien bestätigt. Nach einer aktuellen Umfrage des Pew Research Centre sprechen sich nun 69 Prozent aller US-AmerikanerInnen unter 30 für Homosexuellenrechte aus. Einem Bericht der britischen Equality and Human Rights Commission von 2010 kann entnommen werden, dass nur 15 Prozent der Jugendlichen der Ansicht sind, gleichgeschlechtliche Partnerschaften seien grundsätzlich abzulehnen. Während also die Homophobie in vielen Teilen Afrikas und Asiens grassiert, ist ihr Bedeutungsverlust in Großbritannien und in den USA genauso signifikant wie begrüßenswert.
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Mark McCormack ist Pädagogikdozent an der Brunel University (London). Sein Buch, The Declining Significance of Homophobia: How Teenage Boys are Redefining Masculinity and Heterosexuality, wird im Dezember bei Oxford University Press erscheinen.
Eric Anderson, US-Soziologe an der University of Winchester (UK), publiziert zu den Themen Männlichkeitskonzepte, Sexualität, Sport und Homophobie. Zu seinen Büchern gehören The Monogamy Gap: Men, Love and the Reality of Cheating sowie Inclusive Masculinity: The Changing Nature of Masculinities.
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