Karibische Versteinerungen

Von Redaktion · · 2005/02

Auch wenn sich die Versorgungslage in Kuba in den letzten zehn Jahren verbessert hat, so ist sie immer noch von Mangel geprägt. Und König Dollar entscheidet weiterhin über die soziale Lage der Menschen. Impressionen von der Antilleninsel von Robert Lessmann.

Ein junger Kubaner hält seinen Handteller unter das Kinn (Symbol für El barbudo, den vollbärtigen Fidel Castro) und macht dann mit dem Zeigefinger eine abrupte Bewegung quer zum Hals: „So bestellt er einen Cuba libre“ *) , erklärt sein Nachbar. Ein makabrer Scherz!
„Castros Tod wäre eine Katastrophe“, sagt hingegen ein junger Parteikader aus dem Umfeld des Revolutionsführers. Alle sind wie gebannt auf den Tod des alten Mannes fixiert. Aber niemand weiß, wie es dann weiter gehen soll. Castro ist 78 Jahre alt. Designierter Nachfolger ist sein fünf Jahre jüngerer Bruder Raúl. Der steht als Verteidigungsminister für die Sicherung des Modells. Für Zukunft steht er nicht.
Revolutionäre Durchhalteparolen überall, meist in martialischem Jargon: „La salud del pueblo es una trinchera de combate” – finden wir an der Wand über den Regalen einer Apotheke in Baracoa am Ostzipfel der Insel: „Die Gesundheit des Volkes ist ein Schützengraben im Kampf!“ Geht es auch ziviler? „Che’s Ideen sind stärker denn je!“, lesen wir. Und immer wieder: Fidel, Martí, Camilo, Sierra Maestra und Sturm auf die Moncada-Kaserne! Vorwärts im Kampf! KubanerInnen sind sehr geschichtsbewusst – und das ist gut so. Doch die glorreiche Revolution, die da beschworen wird, liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück, und ihre Errungenschaften zerbröseln.

Greta ist 1979 geboren. Seit sie sich erinnern kann, erlebte sie eine wirtschaftliche Talfahrt nach der anderen. Zwischen 1989, dem Zusammenbruch des Ostblocks, und 1993 war das Bruttoinlandsprodukt um 35% zurückgegangen; die Landwirtschaftsproduktion gar um 52%. Innerhalb von vier Jahren war die Importkapazität der Insel auf ganze 21% des ursprünglichen Wertes gesunken, lag der durchschnittliche Kalorienkonsum pro Kopf im Jahr 1993 plötzlich bei dramatischen 1.780 Kilokalorien pro Tag. (In den Industrieländern stehen im Schnitt über 3.500 Kilokalorien pro Tag und Kopf zur Verfügung; Anm.) Dann – seit Mitte der 1990er Jahre – eine leichte Erholung. Doch mit Wachstumsraten von unter 2% gleicht diese Erholung mehr einer Stagnation auf niedrigem Niveau.
Die alten Slogans gehen Greta nur noch auf den Geist. Sie möchte wissen, wie es in Zukunft besser werden kann. Doch eine Reformdebatte, wie etwa Mitte der 1990er Jahre, gibt es nicht mehr. Ihre ProtagonistInnen sind in alle Winde verstreut, einschlägige Institute wurden geschlossen. Politische Jungstars, mit denen sich damals die Hoffnung verband, dass sie in des Revolutionsführers übergroße Fußstapfen treten könnten und einen Reformprozess leiten, der einen Übergang ohne großen Bruch erlaubt, wurden entweder in die Wüste geschickt oder verstauben in ihren Büros.

Eine Debatte über wirtschaftliche und politische Reformen hatte auf dem IV. Parteitag der Kommunistischen Partei im Jahr 1991 begonnen und fand ihren Höhepunkt in den Jahren 1993 und 1994 mit einer Steuerreform, der Wiederzulassung freier Bauernmärkte, Ausweitung der Möglichkeiten für Kleinstbetriebe auf eigene Rechnung, Dollarfreigabe, Kooperativierung der Landwirtschaft. Doch diese Maßnahmen stellten sich im Nachhinein als halbherziges wirtschaftliches Krisenmanagement heraus. In den ersten fünf Jahren haben in Havanna 50% der neuen Kleinstunternehmen („auf eigene Rechnung“) wieder aufgegeben. 70% der landwirtschaftlichen Nutzfläche befinden sich heute in der Hand von Kooperativen (6% Privatbauern, 24% Staatsbetriebe), doch der Genossenschaftssektor liegt eng an der Leine der staatlichen Planung: 85% der Ernte müssen zu Fixpreisen an den Staat abgeführt werden.
Politisch hat sich seither nichts bewegt. Die Reformdebatte fand ihr abruptes Ende mit einer Rede von Raúl Castro am 5. Plenum des Politbüros vom 23.3.1996. Vorangegangen war im Februar der Abschuss der Zivilflugzeuge der Exilkubanischen Hermanos de Rescate, die seit Jahr und Tag den Luftraum verletzten, um regimefeindliche Flugblätter abzuwerfen. Washington verschärfte seinerseits die Sanktionen mit dem Helms-Burton-Gesetz.

„Vaterland oder Tod“ steht heute (wie in der Anfangsphase der Revolution), wo es vor zehn Jahren noch „Sozialismus oder Tod“ hieß. Combate, Kampf oder Schlacht, wird als Synonym gebraucht für Alltagsbewältigung. Die Versorgungslage ist besser als vor zehn Jahren. Zwischen 1993 und 2000 ist die Agrarproduktion wieder um 35% gewachsen. Auf den freien Bauernmärkten gibt es ein reiches Angebot – doch zu Luxuspreisen: Ein halbes Kilo Schweinefleisch von der Stelze für ein Zehntel des Monatslohns. Man sieht wieder Traktoren auf den Feldern, wo damals nur Ochsenkarren waren, rostige Klapperkisten, aber sie fahren, dank eigener Ölförderung durch ein funktionierendes Joint-Venture und Hugo Chavez‘ Lieferungen – im Gegenzug arbeiten kubanische Ärzte in Venezuela.
Auch bei den rationierten Nahrungsmitteln ist die Lage etwas besser geworden. Gut ist sie nicht. Zweieinhalb Kilo Reis, zweieinhalb Kilo Bohnen, eine Tube Zahnpasta, eine Schachtel Zündhölzer, ein Stück Seife; für Alte und Kinder daneben noch Milchpulver, Rindfleisch und Fisch steht einer Person pro Monat zu. Häufig sind die aufgelisteten Artikel in den Bodegas, den Läden ohne Waren, jedoch nicht erhältlich, die Zuteilungen der Lebensmittelkarte (Libreta) sind auch regional sehr unterschiedlich.
Kleidung gibt es auf Libreta schon lange keine mehr, klagt Lehrerin Barbara (35), die Computerkurse in der Oberstufe für 18- bis 19-Jährige gibt. Sie verdient 218 Pesos im Monat. Textilien müssen frei gekauft werden und sind teuer: Umgerechnet vier US-Dollar kostet ein T-Shirt, beinahe Barbaras halber Monatslohn. Trotzdem sind Kubanerinnen schick bis sexy gekleidet.
Die Mode ist von der US-amerikanischen Pop-Kultur bestimmt. Wie das geht? Die kubanische Gesellschaft ist seit der Dollarfreigabe zutiefst gespalten in einen Sektor, der Zugang zu Devisen hat, über Familienüberweisungen aus dem Ausland oder über den Tourismus, sei es als Bedienung, Souvenirverkäufer, Barde oder Jinetera (Gelegenheitsprostituierte). Und eben jene, die keinen Dollarzugang haben. Neuerdings sieht man erstmals auch richtig arme, zerlumpte Menschen.

Martín ist 24, verheiratet, kinderlos. Seine Frau und er wollen warten, bis eine eigene Wohnung da ist. Sie leben abwechselnd im Haus ihrer und seiner Eltern. Martín arbeitet als Touristenführer. Dafür reicht seine Ausbildung an sich nicht, denn die Schule hat er abgebrochen. Martín arbeitet daher freiwillig in einem Ausflugspark, macht dort unentgeltlich die Drecksarbeit und darf im Gegenzug Gruppen führen. Die sind zufrieden, und bei mickrigen zehn Dollar Trinkgeld pro Gruppe verdient er an einem Vormittag spielerisch das Äquivalent eines halben Monatslohns. Durch den Verkauf von lokalen Spezialitäten und Souvenirs, geschenkten T-Shirts und dergleichen ist der quirlige Martín ein gemachter Mann. Das kann sich allerdings schnell ändern, denn er arbeitet auf Abruf in einer marktwirtschaftlichen Grauzone, einem „wilden Kapitalismus“ mit staatlicher Duldung.

Die Reformfeindschaft des Castro-Regimes und ausländische Sanktionen schaukeln sich gegenseitig auf. Greta hatte bis vor kurzem einen Paladar, ein privates Restaurant, wie sie 1993 zugelassen, aber alsbald auf zwölf Stühle begrenzt worden waren. Diese Beschränkung sollte die Herausbildung einer „neuen Bourgeoisie“ verhindern, doch sie bedeutete gleichzeitig eine Einladung zum Regelverstoß. Nachdem sie in einer Phase der großen Nachfrage eine zusätzliche Putzkraft bezahlt hatte, verlor sie ihre Konzession. Die Mutter von zwei Kindern hofft, sie in Kürze wieder zu erhalten, und arbeitet inzwischen als Jinetera.

Auf gesellschaftlicher Ebene findet ein Wandel längst statt, ohne dass die Machthaber dies bemerken oder wahrhaben wollen. Längst hat der Staat die Fähigkeit verloren, für alle eine Grundversorgung zu gewährleisten. Dass auch noch der letzte Rest zusammenbricht, kann niemand wünschen; martialische Parolen helfen dagegen aber kaum. Mindestens 50% der Konsumgüter werden im informellen Sektor gehandelt, schätzungsweise zwei Drittel der Einkommen am Schwarzmarkt ausgegeben. Ein großer Teil der Einkommen resultiert nicht aus produktiver Arbeit, sondern aus Trinkgeldern, Souvenirverkauf, Prostitution etc. Familienüberweisungen aus dem Ausland sind einer der wichtigsten Devisenbringer (manche Quellen meinen sogar: der wichtigste); US-Präsident George W. Bush und Fidel Castro versuchen derzeit – jeder auf seine Weise –, diese einzudämmen.

*) Der Name – Freies Kuba – geht angeblich auf einen US-Marinesoldat zurück, der mit diesem Cocktail 1898 auf die Befreiung Kubas von der spanischen Kolonialherrschaft anstieß.


AutorenInfo:
Robert Lessmann hat in den 1990er Jahren eine Reihe von Studien über Wirtschaftsreformen in Kuba verfasst, u.a.: „Ausländische Investitionen und wirtschaftliche Strukturreformen in Kuba“, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, 1996; die über die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Internationale Entwicklungszusammenarbeit, Godesberger Allee 149, D-53175 Bonn kostenlos angefordert werden können. Er hat Kuba im letzten Halbjahr zweimal bereist.

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