Hochspannung in Beijing

Von Redaktion · · 2008/04

Wenn im August bei den Olympischen Spielen die Startschüsse ertönen, könnten sie eine Explosion auslösen – denn von der versprochenen „Verbesserung“ der Menschenrechtslage in China ist wenig zu spüren, berichtet NI-Autor Sam Geall.

Die Nachricht löste spontanen Jubel aus, und die Menschen strömten in einer Zahl auf die Straßen, wie es Beijing seit den Demokratieprotesten von 1989 nicht mehr erlebt hatte: Eben – 2001 – hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) entschieden, die Olympischen Sommerspiele 2008 in der chinesischen Hauptstadt auszutragen. Doch die Kontroversen ließen nicht lange auf sich warten. Wie konnte das IOC ein Ein-Parteien-Regime wählen, das jedes Jahr mehr Menschen hinrichten ließ als der Rest der Welt zusammen? Die Antwort war unmissverständlich: „Wir sind überzeugt, dass die Olympischen Spiele die Menschenrechtslage [in China] verbessern werden“, erklärte IOC-Präsident Jacques Rogge. Im kommenden August wird Rogge inständig hoffen, dass er seine Worte nicht bereuen muss.
Der Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht war außergewöhnlich. Seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen in den 1980er Jahren erzielte das Land die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten der Welt, eine Entwicklung, die von ebenso bemerkenswerten sozialen Erfolgen begleitet war. China hat mehr als 200 Millionen Menschen aus der Armut befreit und war damit für drei Viertel der weltweiten Erfolge im Kampf gegen die Armut verantwortlich. Eine junge Generation, selbstbewusste KonsumentInnen mit einer Vorliebe für gewagte Mode, flaniert durch die Einkaufsviertel der großen Städte, Zeichen des tiefgreifenden Wandels einer Kultur, deren Markenzeichen noch vor kurzem schlichte Einförmigkeit war.

Die Entfesselung des Kapitalismus hat ihre Schattenseiten. Zwar soll es in China mittlerweile 345.000 MillionärInnen und 108 MilliardärInnen geben, in US-Dollar bemessen. Der Motor des Wachstums ist aber eine Unterschicht verarmter WanderarbeiterInnen, die zu Millionen in städtische Gebiete strömen, wo ihnen der Zugang zu Sozialleistungen verweigert wird, wo sie nur selten Arbeitsverträge erhalten und nur schlecht oder überhaupt nicht bezahlt werden.
Zwischen Anfang 2008 und 2015 wird sich die Hälfte der weltweiten Bautätigkeit auf China konzentrieren – erschreckend, wenn einem die Berichte über Sklavenarbeit in chinesischen Ziegelfabriken in den Sinn kommen. Ackerland wird von wuchernden Städten und Wüsten verschlungen. Umweltkatastrophen sind häufig; jeden zweiten oder dritten Tag wird irgendwo ein Fluss oder das Grundwasser verseucht. 16 der 20 „schmutzigsten“ Städte der Welt befinden sich in China. Die wachsende Nachfrage nach Energie hat dazu beigetragen, Chinas Kohleindustrie zur tödlichsten der Welt zu machen: Allein in den ersten zehn Monaten 2007 kamen 3.000 Bergleute ums Leben – nach offiziellen Angaben.
Die Lage außerhalb der großen Städte ist von akuten sozialen Spannungen geprägt. Die arme Landbevölkerung leidet unter einer korrupten lokalen Verwaltung, auf die Beijing kaum Einfluss hat. Die Zahl der Protestaktionen soll 2004 bei 74.000 gelegen haben, rund 200 pro Tag. Manche BeobachterInnen sprechen Klartext: „China sitzt auf einem Pulverfass“, betont etwa Phelim Kine, ein Mitarbeiter von Human Rights Watch in Hongkong. „Die Olympischen Spiele in Beijing bieten der chinesischen Regierung eine einmalige Chance, zu zeigen, dass ihre wachsende diplomatische und wirtschaftliche Macht von einer Entwicklung hin zu größerer Toleranz von Menschenrechten und demokratischen Bewegungen begleitet wird. Bisher aber haben sich die anfänglichen Versprechungen … als Betrug erwiesen.“

Eines dieser Versprechen wurde 2006 gegeben, als die Regierung – nirgendwo sitzen mehr JournalistInnen im Gefängnis als in China – zusagte, dass ausländische JournalistInnen vom 1. Jänner 2007 bis 17. September 2008 (dem Ende der Paralympischen Spiele) eine bisher einmalige Freiheit zugestanden bekämen: Die 30.000 ReporterInnen, die China während der Olympischen Spiele voraussichtlich besuchen werden, würden nicht mehr im Voraus um Genehmigungen für Interviews oder Reisen außerhalb der Hauptstadt ansuchen müssen.
Aber dann brachten die Sicherheitsbehörden klammheimlich einen Sprachführer für die Polizei heraus („Olympic Security English“), bestimmt zum Gebrauch während der Sommerspiele. In einem praxisorientierten Dialogbeispiel unter der Überschrift „Unterbinden illegaler Berichterstattung“ stellt ein Polizist einen ausländischen Journalisten zur Rede, der an einer Reportage über die verbotene Falun-Gong-Bewegung arbeitet. Der Polizist erklärt dem Journalisten, dass sein Bericht „die Grenzen seiner Berichterstattung überschreitet und illegal ist“. Dann wird es noch düsterer. „Kann ich jetzt gehen?“, fragt der Journalist. „Nein. Sie kommen mit uns“, antwortet der Polizist. „Wozu?“ „Um diese Angelegenheit aufzuklären.“ Am 6. August 2007 wurde ein Dutzend ausländischer JournalistInnen, die über eine Demonstration für mehr Pressefreiheit berichteten, von der Polizei in Beijing bis zu zwei Stunden lang festgehalten.
China würde sich, ermutigt von den olympischen Idealen, nach und nach von der offiziellen Kontrolle des Informationsflusses verabschieden – das sei das Szenario, das vom IOC und der chinesischen Regierung präsentiert wurde, wie Bob Dietz kürzlich anmerkte, Koordinator des Asienprogramms des in New York ansässigen „Committee to protect Journalists“. Tatsächlich hat sich die Situation aber verschlechtert, sagen KritikerInnen.

Im Juni 2006 wurde Fu Xiancai, ein Gegner des Drei-Schluchten-Dammprojekts, von Unbekannten zusammengeschlagen und blieb gelähmt zurück. Er hatte einem deutschen Fernsehsender ein Interview gegeben. Nach Angaben der Organisation „Human Rights in China“ hatten Polizei und lokale Behörden Fu wiederholt vor Kontakten mit ausländischen Medien gewarnt und ihm eine schwere Bestrafung angedroht.
Viele fürchten nun, dass der Polizist in „Olympic Security English“ einen nur allzu realistischen Maßstab dafür abgibt, was tatsächlich zu erwarten ist. Aber das IOC scheint sich darum nicht zu kümmern. „Das IOC hat auf Verstöße gegen dieses wichtige offizielle Versprechen in keiner Weise reagiert“, sagt Kine. „Mit seiner Kritik an der Giftglocke über Beijing hat sich das IOC extremst hinausgelehnt, aber dazu verlieren sie kein Wort.“ Zumindest in einer Hinsicht war der fiktive Polizist realistisch dargestellt, denn in Beijing findet eine Art „Großreinemachen“ statt. Ziel sei es, so Kine, im Rahmen der Stadterneuerung „jeden potenziellen Unruheherd in Beijing zu eliminieren“.
Die Kommunistische Partei verfügt seit der Revolution von 1949 über ein Machtmonopol. Der letzte „Nationale Kongress“ der Partei, der etwa alle fünf Jahre zusammentritt, fand im Oktober 2007 in Beijing statt. Liu Jingmin, amtsführender Vizepräsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele, erklärte damals: „Ich glaube, dass die Vorbereitungen auf die Spiele die Entwicklung der Menschenrechte in China ungemein gefördert haben.“

Praktisch während seiner Rede war die Polizei in Beijing mit „Aufräumarbeiten“ nach der Demolierung eines „Dorfes“ von BürgerInnen aus ländlichen Regionen beschäftigt. Sie hatten sich an einer Petition für politische Reformen in Form eines offenen Briefs beteiligt, der von mehr als 12.000 Menschen unterzeichnet war. Petitionen sind in China eine jahrhundertealte Praxis. BürgerInnen – meist Angehörige der armen Landbevölkerung – reisen nach Beijing, um sich über Missetaten lokaler Behörden zu beschweren. Die Annahme von Bestechungsgeldern ist unter lokalen BeamtInnen mittlerweile zu einer Art Sport avanciert. Die BittstellerInnen könnten daher theoretisch als Ersatz für eine dringend benötigte unabhängige Kontrollinstanz der lokalen Behörden betrachtet werden.
Die Zwangsräumung erfolgte unmittelbar nach der Aushändigung des Briefs, und das Vorgehen der Polizei war außergewöhnlich rücksichtslos. „Wir sind besorgt, dass es sich dabei um das Modell dafür handelt, wie die chinesische Regierung mit DissidentInnen, BittstellerInnen, JournalistInnen umzugehen gedenkt, die sich nicht an die Parteilinie halten“, kommentiert Kine.
„Jede Gruppe und jede Person, die während der Olympischen Spiele in Beijing eine Versammlung, einen Marsch oder eine Demonstration abhält, hat die chinesischen Gesetze einzuhalten“, wurde der Pressereferent des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit, Wu Heping, im November in der Presse zitiert. Der Dreh dabei: Eine Protestaktion ist nur dann legal, wenn sie zuvor genehmigt wurde. Genehmigungen werden aber praktisch nur für Protestaktionen erteilt, die von der Regierung unterstützt werden, etwa für die antijapanischen Kundgebungen von 2005.

Diesen Sommer wird die Welt erfahren, ob die Strategie der Regierung in Beijing Erfolg hat. Phelim Kine glaubt, dass Repression noch größere Probleme mit sich bringen wird: „Sie verstärken bloß den Druck, die Spannungen und Belastungen in einem System, das sich langfristig nicht halten kann. China muss sich mit dieser Menschenrechtsproblematik befassen, oder der ganze mühsame Kampf um das Wirtschaftswachstum und die wirtschaftliche Stabilität, die Millionen aus der Armut befreit haben, wird vergebens gewesen sein.“

Copyright New Internationalist

Sam Geall ist Journalist und Chinaexperte und lebt in London.

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