Wenn Amerika niest, holt sich der Rest der Welt einen Schnupfen, heißt es – und die weltweite Krise auf den Finanzmärkten scheint es zu bestätigen. Auf Ebene der Realwirtschaft dagegen sieht es – bisher, zumindest – doch etwas anders aus: Während der Internationale Währungsfonds (IWF) für 2009 eine generelle Rezession in den reichen Ländern erwartet, sollte die Wirtschaft in den übrigen Regionen zwar weniger rasch, aber mit 5% doch recht kräftig wachsen, getragen von einer wachsenden Binnennachfrage und einem zunehmenden Süd-Süd-Handel. Maßgeblichen Anteil daran haben laufende und geplante Investitionen in die Infrastruktur, von Straßen- und Eisenbahnnetzen, Hafenanlagen, Telekommunikation über die Energie- und Stromversorgung bis zur Kanalisation, Trinkwasserversorgung und zum Wohnungsbau.
Um kleine Fische handelt es sich dabei nicht. Zwischen 2008 und 2017, so die Investmentbank Morgan Stanley Mitte des Jahres, könnten in den Schwellen- und Entwicklungsländern rund 22.000 Mrd. US-Dollar in Infrastruktur investiert werden – um 40% mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt (BIP) dieser Länder im Jahr 2007. Überschlagsmäßig ergibt das jährlich 10% des BIP. Der britische Economist zeigte sich beeindruckt: Selbst zum Höhepunkt des britischen „Eisenbahnfiebers“ in den 1840er Jahren hätten sich diese Ausgaben bloß auf 5% des BIP belaufen.
Dieser historische Boom ist großteils China bzw. dem übrigen Asien zu verdanken (siehe Grafik). Basis der Prognosen sind Annahmen über steigende Einkommen, Industrialisierung und Urbanisierung – d.h. das rasche Wachstum der städtischen Bevölkerung – sowie bereits bekannte Infrastrukturprogramme (siehe Kasten). Sofern es sich nicht um „weiße Elefanten“ handelt, sind solche Investitionen eine Garantie für nachhaltiges Wachstum. Ihr Multiplikatoreffekt wird je nach Sektor und Quelle auf 1,5 bis zu 6 geschätzt (d.h., der investierte Betrag generiert bis zu sechsmal höhere Folgeausgaben).
Nicht zuletzt dieser Effekt hat dafür gesorgt, dass Infrastrukturausgaben plötzlich wieder ebenso „en vogue“ sind wie keynesianisches „Deficit spending“: Sie eignen sich weit besser zur Ankurbelung der Konjunktur als Steuersenkungen, die sich allenfalls im Verhältnis 1:1 niederschlagen. Wie sich die Zeiten ändern: Olivier Blanchard, Chefökonom des IWF, sprach sich Anfang November für eine koordinierte weltweite Ausgabensteigerung aus, und zwar „ziemlich bald“. Um in Frage zu kommen, müssten Infrastrukturprojekte allerdings bereits umsetzungsreif und ihre Finanzierung gesichert sein. Das ist nicht selbstverständlich, und gerade die Finanzkrise könnte einige Pläne sogar torpedieren.
Wo könnte das eine, wo das andere der Fall sein? Ein Ausgangspunkt sind die jüngsten IWF-Prognosen von Anfang November. Mit den stärksten Wachstumseinbrüchen (relativ zur Periode 2006/2007) wäre demnach in Zentral- und Osteuropa/CEE (-60%), der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)/Russland (-62%) und in Lateinamerika (-55%) zu rechnen, wobei es für Mexiko weit düsterer aussieht als für Brasilien. Dort bestünde daher theoretisch der höchste Gegensteuerungsbedarf (also mehr Staatsausgaben), während die übrigen Regionen vergleichsweise glimpflich davonkommen dürften.
Leider deckt sich jedoch der jeweilige Budgetspielraum nicht mit diesem Bedarf. Dass die CEE-Länder zum Teil bereits am Tropf des IWF hängen, ist bekannt. Ganz gut sieht es dagegen diesbezüglich in Russland aus, das noch einige hundert Mrd. Dollar an Währungsreserven in petto hat. Dass gerade die Regierung in China finanziell bestens dasteht, erweist sich als doppelter Vorteil: Was gut für China ist, ist es auch für jene Regionen, die zuletzt im Sog der wachsenden Rohstoffimportnachfrage aus Asien Oberwasser bekamen, insbesondere für Afrika südlich der Sahara und Lateinamerika.
Tatsächlich kündigte Beijing Anfang November ein Infrastrukturprogramm im Ausmaß von 586 Mrd. Dollar in den beiden kommenden Jahren an – der Gesamtbetrag entspricht immerhin ca. 1% des Weltwirtschaftsprodukts. Auch wenn noch nicht klar war, inwieweit bereits geplante Investitionen enthalten sind: Diese Ausgaben könnten mithelfen, einen Art Boden für die Rohstoffpreise zu bilden, von deren Verfall die beiden Regionen stark betroffen sind.
Im Gegensatz dazu könnten jedoch Infrastrukturprogramme überall dort gefährdet sein, wo mangels staatlicher Ressourcen auf eine große oder mehrheitliche Beteiligung des Privatsektors gesetzt wurde. Das gilt zumal für das Projektportfolio der staatlichen indischen Investment Commission bis 2012 (siehe Kasten). Die Regierung in Neu-Delhi hatte selbst im jüngsten Aufschwung ein hohes Budgetdefizit erwirtschaftet. Zweifellos gilt es aber auch für Lateinamerika.
Projektportfolio mit Schattenseiten
Das weltweite Investitionsprogramm ist einerseits beeindruckend, andererseits aber auch eine Büchse der Pandora, von Kohlekraftwerken bis zu bedenklichen Staudammvorhaben am Mekong oder in Brasilien (Belo Monte/Rio Xingu, siehe Standpunkt S.26).
China (bis 2020 bzw. 2030)
Erweiterung der Kraftwerkskapazität bis 2030 um 1.300 GW – 58 GW/Jahr (Kraftwerkskapazität in Deutschland: ca. 110 GW)
20.000 km Autobahnen/Schnellstraßen bis 2020
97 neue Flughäfen bis 2020
Eisenbahnen: 42.000 km neue Strecken (292 Mrd. US-Dollar)
Indien, Investment Commission (2008 bis 2012)
Straßen (90 Mrd. $), Häfen (21 Mrd. $),urbane Infrastruktur (50-55 Mrd. $), Energie (150 Mrd. $), Erdöl/Erdgas (35-40 Mrd. $), Telekom (76 Mrd. $)
Russland (bis 2015)
Modernisierung/Erweiterung der
Verkehrs- und Transportinfrastruktur des Landes (570 Mrd. $)
Mexiko (Plan Nacional de Infraestructura, 2007-2012, Maximalbeträge)
Erdölförderung und Raffinerien (ca. 160 Mrd. $); Stromversorgung (50 Mrd. $), Telekommunikation (150 Mrd. $), Straßenbau (205 Mrd. $).
Brasilien (Programa de Aceleraçao do Crescimento, PAC: 2007-2010)
Verkehr und Transport (ca. 30 Mrd. $); Energie (140 Mrd. $); soziale und urbane Infrastruktur (85 Mrd. $)Sieht man von Chile und Panama (Erweiterung des Panamakanals) ab, sticht die Region durch geringe Infrastrukturausgaben hervor, und das seit Jahrzehnten – eine Eigenschaft, die sie mit Afrika südlich der Sahara gemeinsam hat. Der Zusammenhang mit der Schuldenkrise und den Restrukturierungsprogrammen der Internationalen Finanzinstitutionen liegt auf der Hand. Diese Unterinvestitionen könnten sogar für einen Großteil der eklatanten Wachstumsunterschiede der beiden Regionen etwa gegenüber den asiatischen Tigern verantwortlich sein.
Afrika steht da etwas besser da. Hier wird der zusätzliche Investitionsbedarf für Infrastruktur, von Tony Blairs „Commission for Africa“ auf 20 Mrd. Dollar pro Jahr geschätzt, seit einigen Jahren zum Teil durch Unternehmen aus China, Indien und den Golfstaaten gedeckt. Davon bekam Lateinamerika bisher weit weniger ab, und auch schwimmen die Regierungen nicht gerade in Geld. Die Budgetüberschüsse von zuletzt durchschnittlich 1% könnten rasch verschwinden, wie eine Studie der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) vom vergangenen April zeigte. Eliminiert man die Einflüsse des Konjunkturzyklus und der überschießenden Rohstoffpreise, ergibt sich stattdessen ein „strukturelles Defizit“ von minus 4%.
Die Region ist daher auf private Investoren angewiesen, um die Infrastrukturlücke zu schließen. Dem wird auch in den Infrastrukturprogrammen in Mexiko und Brasilien Rechnung getragen. Etwa soll der mexikanische Plan Nacional de Infraestructura (PNI) für die Jahre 2007 bis 2012 mit einem Volumen von bis zu 300 Mrd. Dollar zu 58% von privaten Investoren getragen werden. Ebenso verhält es sich mit dem brasilianischen Infrastrukturprogramm (Programa de Aceleraçao do Crescimento, PAC), das auf vier Jahre angelegt ist und Investitionen von ca. 250 Mrd. Dollar vorsieht. Den Großteil der PAC-Projekte sollen private Investoren finanzieren, weshalb auch im Ausland dafür geworben wird – zuletzt Anfang November im Rahmen einer offiziellen „Roadshow“ in Europa, von Lissabon über London bis Frankfurt.
Diese Programme könnten daher durchaus ins Stocken geraten, ebenso in Indien. Inwieweit, hängt von der Entwicklung des Risikoappetits des in- und ausländischen Privatsektors ab. Der ist derzeit nicht gerade ausgeprägt. Kehrt die Vernunft zurück, sollte er sich aber wieder einstellen: Wenn in den reichen Ländern 2009 eine Rezession herrscht, der Rest der Welt aber mit 5% wächst, wo sollen dann global tätige Unternehmen und Investoren investieren, wenn nicht in den Schwellen- und Entwicklungsländern? Dort gibt es mit ziemlicher Sicherheit mehr zu holen, und vor allem längerfristig.