Sie gelten längst nicht mehr als makellose Akteure im Dienste des Altruismus: NGOs sind heute mit teils schwerwiegenden Anschuldigungen konfrontiert. NI-Autor Dinyar Godfrey hat sich ihr Sündenregister durchgesehen.
Mit der eskalierenden Zahl der „non-governmental organisations“ (NGOs) – ob im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder der humanitären Hilfe – könnte man eigentlich erwarten, dass sich die Welt von Tag zu Tag zum Besseren ändert: Schließlich schwärmen ganze Scharen von nicht gewinnorientierten Organisationen mit den besten Absichten in die weite Welt hinaus, um „Kapazitäten aufzubauen“, „die Armut zu verringern“ und dafür zu sorgen, dass auch die „Ärmsten der Armen“ Gehör finden. Die Erwartung ist verständlich. Zieht man jedoch die Geschichte zu Rate, weiß man: Es könnte auch das Gegenteil der Fall sein.
Der Begriff „non-governmental organisation“ (Nichtregierungsorganisation) ist jüngeren Ursprungs: Er geht auf die Gründung der Vereinten Nationen 1945 zurück, als ausgewählte nicht-staatliche Institutionen als Beobachter bei einigen der UNO-Treffen zugelassen wurden. Das gemeinsame Merkmal dieser Gruppe bestand darin, dass sie – abgesehen von der Tatsache, dass sie weder Regierungseinrichtungen noch Unternehmen im herkömmlichen Sinne waren – sich erklärtermaßen für ein gesellschaftliches Gut einsetzten, ob für Menschenrechte, für die Umwelt oder bloß für „Entwicklung“, was damals noch eine neumodische Idee war.
Heute, ein paar Jahrzehnte später, erleben wir eine explosionsartige Vermehrung solcher Initiativen. Den Antrieb lieferte der Aufstieg des Neoliberalismus, der sich in der Reagan-Thatcher-Ära quasi als offizielle Doktrin etablierte. Kapitalismus in Reinkultur und der so genannte freie Markt galten als Patentlösung; Regierungen, die bisher alle möglichen öffentlichen Güter (Gesundheitsversorgung, Bildung etc.) bereitgestellt hatten, sollten in Hinkunft möglichst die Finger davon lassen.
Gesagt, getan. Zunehmend setzten Regierungen auf NGOs, um Leistungen kostengünstig erbringen zu können, ein Trend, der sich mit der Sparpolitik weiter verstärkt hat. Was die Regierungen den NGOs dafür bezahlten, reichte in der Regel nicht an die gestrichenen Budgets heran. Auch die Hilfe für so genannte Entwicklungsländer wurde in wachsendem Ausmaß über NGOs kanalisiert: Zwischen 1975 und 1985 erhöhten sich die Entwicklungshilfegelder, die von NGOs administriert wurden, nach manchen Schätzungen um 1.400 Prozent.
Mit der Fragmentierung der Linken im Gefolge der neoliberalen Attacke floss die Energie, die ansonsten für einen konzertierten Widerstand hätte genutzt werden können, quasi gießkannenartig in die Gründung von NGOs, die dann als Reservoir des Idealismus dienten. Die indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy beschreibt die Transformation in der Zeitschrift „Outlook India“ folgendermaßen: „Ausgerüstet mit ihren Milliarden zogen diese NGOs in die ganze Welt und verwandelten potenzielle Revolutionäre in besoldete Aktivisten, finanzierten Künstler, Intellektuelle und Filmmacher und verführten sie sanft dazu, auf radikale Konfrontation zu verzichten.“
Heute werden allein in Großbritannien jeden Tag 30 NGOs gegründet, und in den USA gibt es 1,5 Millionen davon. Nicht weniger als 90 Prozent der heute existierenden NGOs wurden nach 1975 ins Leben gerufen. Man könnte sie als „Indikatorspezies“ betrachten, wie Roy meint, denn „je größer die vom Neoliberalismus angerichteten Verheerungen, desto stärker auch die Massenvermehrung von NGOs“.
Die Artikel dieses Themas wurden zuerst im Monatsmagazin „New Internationalist“ (Ausgabe 478, Dezember 2014) veröffentlicht. Wir danken den KollegInnen in Großbritannien für die gute Zusammenarbeit. Der „New Internationalist“ kann unter der Adresse: McGowan House 10 Waterside Way Northampton, NN4 7XD, UK bezogen werden (Jahresabo: 37,85 Pfund; Telefon: 0044/ 1604 251 046). www.newint.org. Redaktionelle Bearbeitung und Kürzung der Artikel: Nora Holzmann. Übersetzung: Robert Poth.
Teil des Systems. Neben Regierungen und Unternehmen, den zwei dominierenden Mächten der globalisierten Wirtschaft, gelten NGOs als dritte Kraft. Tatsächlich ist der Einfluss der großen internationalen NGOs, der BINGOs (von engl. „big“) mit Budgets von hunderten Millionen US-Dollar, nicht zu unterschätzen. Aber sind sie wirklich ein Gegengewicht, kämpfen sie unermüdlich für soziale Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung? Sie würden zwar vom Kampf gegen Armut reden, aber – meinen Kritikerinnen und Kritiker – in der Praxis hätten sie nur wenig Dauerhaftes erreicht.
Es beginnt mit der kompromittierenden Natur ihrer Geldquellen: Nationale und internationale Hilfsagenturen sowie Unternehmen finanzieren oft den Großteil ihrer Budgets. Auch wenn es manche BINGOs bestreiten werden: Ihre Perspektive wird davon beeinflusst, und sie kommen den Wünschen ihrer Geldgeber immer weiter entgegen. Programmatisch steht die Partnerschaft mit deren Interessen im Zentrum, nicht ein Hinterfragen selbiger. Man akzeptiert die Spielregeln des Systems, und mit dem Wirtschaftswachstum werde sich auch für die Armen alles zum Besseren wenden, so die Devise.
Tatsächlich sind nicht wenige Kampagnen, die transnationale Konzerne zur Rechenschaft ziehen wollten, zu einer „Kooperation mit Unternehmen“ und zu „Corporate Responsibility“-Projekten degeneriert. Einige BINGOs versuchen gleich von vornherein, Unternehmen mit dem Versprechen, ihr Image durch die Zusammenarbeit zu verbessern, als „Partner“ zu gewinnen (siehe Artikel auf S. 31).
Im Dienst der Geber. Finanzielle Abhängigkeiten zusammen mit einer hierarchischen Kultur wie in Großunternehmen – viele BINGO-Chefinnen und Chefs kommen aus der Wirtschaft – erklären zu einem wichtigen Teil das gegenwärtige Dilemma großer NGOs. Dhananjayan Sriskandarajah, Generalsekretär von Civicus, einem globalen Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen und AktivistInnen, schreibt dazu in der britischen Zeitung „The Guardian“: „Unsere Vision des Möglichen hat sich dramatisch verengt. Seit das Um und Auf darin besteht, eine effektive Verwendung der Gelder nachzuweisen, teilen wir unsere Arbeit auf hübsche Projekte auf und lassen uns nur mehr auf Aktivitäten ein, die einfach quantifizierbare Ergebnisse liefern. Da wir Geld brauchen, um unsere ziemlich großen Organisationen zu unterhalten, meiden wir Zugänge oder Themen, die unsere Marke gefährden oder unseren Gebern missfallen könnten. Was wir verkaufen, ist Veränderung in kleinen Portionen.“
NGOs, nicht nur die ganz großen, sind mit gewaltigen, tief verwurzelten und komplexen Problemen konfrontiert; unter dem Druck der Geber sind sie zusehends gezwungen, darauf mit einem einzelnen Projekt mit soundso viel vorgegebenen Ergebnissen zu reagieren. So wird auch mit potenziellen Spenderinnen und Spendern kommuniziert: „Mit ihren 50 Dollar finanzieren Sie Moskitonetze für eine vierköpfige Familie.“ Gesellschaftsveränderung funktioniert zwar so nicht, aber auch NGOs, die einen echten Wandel anstreben, haben kaum eine andere Wahl.
Persönliche Erfahrung. 2008 arbeitete ich an einer Reportage über die menschlichen Kosten der Militärdiktatur in Burma. Dabei kam ich mit einigen burmesischen NGOs in Kontakt, die im Grenzgebiet in Thailand tätig waren. Ich war etwas verblüfft über die Zahl der Berichte, die mir in die Hände gedrückt wurden; offenbar war die Finanzierung von Berichten bei den Gebern beliebt. Auch wenn Medien NGO-Aktivitäten kritisch unter die Lupe nehmen, geht es zumeist um die Verwendung der Gelder, um ihre Rechenschaftspflicht gegenüber den Gebern. Aber wie steht es um ihre Rechenschaftspflicht gegenüber den Menschen, denen die Maßnahmen nützen sollen?
Ein verbreiteter Vorwurf lautet, dass die von NGOs erbrachten Leistungen auf Konzepten beruhen, die bereits im Vorhinein festgelegt wurden. Die Historikerin Diana Jeater schreibt über ihre Erfahrungen: „Als ich in den 1980er Jahren in Simbabwe zu arbeiten begann, war ich davon beeindruckt, dass alle NGO-Leute, die ich traf, so betonten, dass man den Bäuerinnen zuhören müsse. Die Ernüchterung folgte auf den Fuß, als ich begriff, was ‚Zuhören‘ hieß: ‚Herausfinden, wie wir das, was wir anbieten wollen, so präsentieren können, dass es von den Bäuerinnen akzeptiert wird‘.“ 1)
Schwerer wiegen andere Vorwürfe, etwa dass NGOs Widerstandsbewegungen depolitisieren, ohne Legitimation als deren Sprachrohr auftreten, mit Selbsthilfe-Projekten und Ähnlichem von der politischen Konfrontation ablenken und einen Keil in Gemeinschaften treiben würden, die um ihre Existenz kämpfen. „Sie nehmen sich bestimmte Teile der Bevölkerung an die Brust und kümmern sich nur noch um diese Leute“, kritisiert ein indischer Aktivist, „die anderen existieren nicht mehr. Sie lassen ein bisschen Hoffnung aufkommen, lösen kleinere Probleme und verändern hier und da etwas, während wir im Rahmen der Bewegung versuchen, uns der wirklichen Probleme anzunehmen, der Vertreibung und Entrechtung, von der alle betroffen sind, ob sie von NGOs profitieren oder nicht.“ 2)
Tatsächlich lehnen heute viele der radikaleren Basisbewegungen jede finanzielle Unterstützung durch NGOs ab und arbeiten nur mit ihnen zusammen, wenn sie sich davon einen politischen Vorteil versprechen.
Bringen also NGOs überhaupt etwas? Beispiel Bangladesch: Das kleine Land hat die weltweit größten nationalen NGOs, die faktisch als Parallelregierung operieren – sie geben mehr Geld für Entwicklung aus als die Regierung. Die meisten Menschen, mit denen sie arbeiten, sind aber weit davon entfernt, der Armut zu entrinnen. Kritisiert wird auch das marktorientierte Entwicklungsmodell der NGOs, mit seinem Fokus auf Mikrokredite, die eher individuelles Gewinnstreben fördern als gemeinschaftliche Initiativen – ganz zu schweigen von der Schuldenfalle, in der viele landen.
Ganz anders die Realität auf den Philippinen: Dort konnte ich aus erster Hand erfahren, wie vernetzt kleine radikale NGOs waren, sowohl untereinander als auch mit den Gemeinschaften, denen ihre Arbeit galt, und dass sie keinerlei Probleme hatten, den Widerstand an der Basis zu unterstützen. Eine Regierung nach der anderen hat die Einbeziehung von NGOs in die Arbeit von Verwaltungs- und Lokalbehörden aktiv gefördert.
Ihre Erfolge blieben aber auf die lokale Ebene beschränkt. Und am grundlegenden Problem des Staates, der Konzentration von Vermögen und Land in den Händen einiger weniger und dem Besetzen der Regierungsmacht durch eine Elite, hat sich kein Deut geändert. Die 25 reichsten Menschen auf den Philippinen werden immer reicher, und ihr Vermögen ist fast so hoch wie das gesamte Jahreseinkommen der 55 Millionen zählenden armen Mehrheit.
Es ist aber vielleicht nicht realistisch, derartig große strukturelle Veränderungen von NGOs zu erwarten, insbesondere wenn auch die Regierungen nichts dergleichen tun.
Einsatz und Erfolg. Manche NGOs haben sich auf die Leistung humanitärer Hilfe bei Katastrophen spezialisiert und reagieren auch oft als erste im Krisenfall. Kritik wird häufig erst nach Einsätzen laut, etwa an Doppelgleisigkeiten, einem schlechten Management oder einem Mangel an Konsultationen bei Wiederaufbauprogrammen. Aber in solchen Fällen wäre keine Hilfe die schlechteste Option.
Im Umweltbereich wiederum gibt es einige große, sehr aktionsorientierte NGOs, deren Mitglieder nicht davor zurückschrecken, persönliche Risiken einzugehen; genauso finden sich hier aber auch einige, die ein besonders enges Naheverhältnis mit Unternehmen pflegen und sich dadurch auch kompromittiert haben.
Zweifellos haben NGOs in einzelnen Themenbereichen viel erreicht, von der Abschaffung der Sklaverei über das Verbot von Antipersonenminen bis zum Zugang zu HIV-Medikamenten. Geht es um die Verteidigung der Menschenrechte, die Anliegen politischer Gefangener oder um den Kampf gegen die Verfolgung sexueller Minderheiten, haben sie oft den Zorn von Regierungen auf sich gezogen. Es sind diese Aktivitäten, die Regierungen abstellen wollen, wenn sie versuchen, NGOs zu verbieten oder ihre ausländischen Geldquellen auszutrocknen.
Kämpfen statt Hand aufhalten. Von politischer Neutralität und universellen Wertvorstellungen kann bei den meisten NGOs leider nicht die Rede sein. Manche westliche NGOs sind eher bereit, Menschenrechtsverletzungen in Ländern des Südens zu verurteilen als Missstände im eigenen Land. Human Rights Watch (HRW) etwa wurde vorgeworfen, ihr Führungspersonal in US-Regierungskreisen zu rekrutieren. Tom Malinowski, damals Advocacy-Direktor der Organisation und ehemaliger Sonderberater von Bill Clinton und Redenschreiber für dessen Außenministerin Madeleine Albright, rechtfertigte 2009 sogar CIA-Auslieferungen – „unter bestimmten, begrenzten Umständen“.3) Eine gewisse Schlagseite war auch bei den HRW-Berichten zu Kriegsverbrechen im Israel-Palästina-Konflikt zu beobachten.
Dass selbst die schwerfälligen BINGOs zahlreiche Erfolge vorzuweisen haben, ist unbestritten. Aber werden sie sich tatsächlich ins Zeug legen und den wichtigsten Befreiungskampf unserer Zeit unterstützen, den Kampf der 99 Prozent um mehr Gleichheit und Gerechtigkeit? Wenn die Menschen, die sich den größten Reichtum angeeignet haben, sich als große Philanthropen und Philanthropinnen in Szene setzen wollen, sollten NGOs dann wirklich Schlange stehen und ihre Hand aufhalten? Könnten sie nicht damit aufhören, sich auf ihre „humanitäre“ und „karitative“ Arbeit zu beschränken, auf ihre Funktion als Überbringer einer stark politisierten und oft schädlichen Hilfe, und sich wieder dem Kampf um Gerechtigkeit anschließen?
Von NGOs wird erwartet, „unpolitisch“ zu sein, aber was sie auch immer unter den gegebenen verzerrten Machtverhältnissen tun, ist zwangsläufig politisch. Insofern könnten sie sich ihre Hände ja gleich ordentlich schmutzig machen.
Copyright New Internationalist
(1) In „Zimbabwe: International NGOs and aid agencies – Parasites of the Poor?“, 5. August 2011, African Arguments.
(2) Dip Kapoor, „Social action and NGOization in contexts of development dispossession in rural India: Explorations into the un-civility of civil society“, in NGOization: Complicity, contradictions and prospects, Hrsg. Aziz Choudhry und Dip Kapoor, Zed Books, 2013.
(3) Offener Brief u.a. von NobelpreisträgerInnen, 12. Mai 2014, alternet.org
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