Kunst als Widerstand – Widerstand als Kunst. Eine Stellungnahme gegen die anonymen gesellschaftlichen Verhältnisse wird immer schwieriger und zugleich immer nötiger. Übergänge verschwimmen. Nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Kunst, Politik und Marketing.
Ein Erbe der Moderne ist, dass sich die Kunst, die sich selbst als Avantgarde bezeichnete, in den Dienst der Vorstellung von einer menschlicheren Gesellschaft stellte und entschieden Widerstand formulieren wollte. So protestierten die Dada-Künstler und -Künstlerinnen ab 1916 gegen das Wilhelminische Kaiserreich und den I. Weltkrieg. George Grosz, Otto Dix, Hanna Höch und andere organisierten Veranstaltungen wie Dada-Messen, in denen sie die Kriegsgräuel anprangerten und prompt wegen Verunglimpfung staatlicher Autoritäten verklagt wurden. John Heartfield wurde durch seine Collagen berühmt, in denen er Hitler verhöhnte. Beinahe alle Künstler und Künstlerinnen der Moderne des 20. Jahrhunderts wurden entweder als „entartet“ gebrandmarkt und verfolgt, sie gingen ins Exil oder in die „innere Emigration“.
Die Fluxus-Bewegung brachte nach dem II. Weltkrieg eine erneute politische Aufladung mit sich. Der Vietnam-Krieg – der erste Krieg, der „live“ übertragen wurde – rief eine Welle der Entrüstung und des Protests hervor. Wolf Vostell wurde durch seine Aktionen und Collagen bekannt, in denen er nicht nur das Morden im Fernen Osten anprangerte, sondern sich gegen die Konsumorientierung der westlichen Gesellschaft insgesamt auflehnte. Klaus Staeck protestierte mit Postkarten und Postern gegen Umweltverschmutzung und gesellschaftliche Ungleichheit. Joseph Beuys schließlich verstand Kunst generell als eine Praxis, die als eine Art Modell für gesellschaftlichen Wandel dienen sollte. Die Gesellschaft als Ganzes sollte wie eine Skulptur geformt werden, und jedes Gesellschaftsmitglied sollte sich aufgerufen fühlen, die „Soziale Plastik“ mitzugestalten.
Es ist heute fast schon zu einem Allgemeinplatz geworden, dass die Kunst, die sich als neu, innovativ und engagiert versteht, Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen formulieren müsse. Aber nun erfordert dies häufig eine Art von Selbstinszenierung, die auf einem Wunschdenken basiert, denn in der Gesellschaft der Spätmoderne lässt sich kaum mehr ausmachen, gegen wen es denn zu protestieren gilt, wenn es um eine menschlichere Gesellschaft geht. Feindbilder wie „der Kapitalismus“ „die herrschende Klasse“, „der Neoliberalismus“ etc. müssen überhaupt erst aufgebaut werden, um sie dann umso deutlicher bekämpfen zu können. Die liberalen westlichen Demokratien scheinen Eigensinn, kritisches Bewusstsein oder auch nur schlaue Marketingstrategien eher zu belohnen als unauffällige Angepasstheit; so wurde Christoph Schlingensief nach seinem Aufruf „Tötet Helmut Kohl“ (1997) zwar verhaftet, doch war dies seiner Karriere kaum abträglich: Er inszenierte 2005 in Bayreuth Wagners Parsifal und wurde für den Deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2011 ausgewählt, der den Goldenen Löwen gewann. Wer wollte Bob Marley ankreiden, dass er die spezifische Musik seiner Heimat Jamaika genial vereinfachte und einer internationalen Fangemeinde verständlich machte, durchaus auch in der Hoffnung, damit Erfolg zu haben? Künstlerische Inszenierung, politische Aussage und Marketingstrategien sind in den Werken und Produktionen der aktuellen Kunst untrennbar miteinander verquickt.
Anders scheint die Situation in Weltgegenden, die nicht den Mechanismen der öffentlichen Wahrnehmung und des gepflegten Feuilletons der westlichen Welt folgen und deren Kunstproduktionen noch nicht den Regeln des internationalen Kunstmarkts gehorchen. In den Ländern des sogenannten „Arabischen Frühlings“, aber auch in wirtschaftlich aufstrebenden Regionen wie China, Russland, Indien geraten Künstlerinnen und Künstler ähnlich wie Journalisten oft unter Generalverdacht. Ob sie nun mit ihrer Kunst ausdrücklich Widerstand demonstrieren wollen oder nicht – sie geraten mit der staatlichen Macht sozusagen „automatisch“ in Konflikt. Die Inszenierung „Radio Muezzin“ des berühmten Autorenkollektivs Rimini Protokoll zusammen mit Akteurinnen und Akteuren aus Kairo hatte in Europa großen Erfolg, wurde aber in Ägypten verboten, obwohl sie „nur“ vom Alltag ihrer Protagonisten erzählte.
Im Folgenden sollen kurz einige Beispiele vorgestellt werden, in denen die eigene künstlerische Praxis als Form des Widerstands oder des Widerspruchs verstanden wird.
Die 1977 in Belfast/Irland geborene und früh mit ihrer Familie nach Neuseeland ausgewanderte Video-Künstlerin Alex Monteith arbeitet eng mit Gruppen der M¯aori zusammen, die sich für die Wiedergutmachung von Unrecht einsetzen, das ihren Vorfahren im Zusammenhang mit der Kolonisierung im 19. und 20. Jahrhundert zugefügt wurde. Gegen bestehende Verträge wurden den ersten Bewohnerinnen und Bewohnern Neuseelands durch britische Siedlerinnen und Siedler Ländereien geraubt und ihnen in vielen Fällen damit die Lebensgrundlage entzogen. Erst 1975 entwickelte sich eine starke Protestbewegung, die sich für die Rechte der M¯aori einsetzte und zur Einführung einer Regierungsstelle führte, die Wiedergutmachungsansprüche regeln sollte.
Am Anfang der „Maori-Renaissance“ 1975 stand der Marsch einer alten Frau, Dame Whina Cooper, von der Nordspitze der Nordinsel bis an ihr südliches Ende, der Hauptstadt Wellington. Dame Whina Cooper begann diesen Marsch mit ihrer Enkelin, und Wellington erreichte sie mit 5.000 Gleichgesinnten, um der Regierung über 60.000 Unterschriften zu überreichen und Gerechtigkeit einzufordern. Aus diesem Landmarsch, einem sogenannten „Hikoi“, ergab sich eine Tradition der Protestmärsche, die Alex Monteith aufgreift, indem sie beispielsweise in ihrer Arbeit „1020 meters in 26 minutes Waitangi Day Auckland Harbour Bridge Protest“ von 2008 am Nationalfeiertag einen Verkehrsknotenpunkt der Stadt Auckland, die Brücke über den Hafen, durch einen Autokorso lahmlegt. An ihrem Fahrzeug sind eine nach vorne und eine nach hinten gerichtete Kamera angebracht, die das langsame Vorrücken der Wagen filmen. Gezeigt wird die Arbeit als Doppelprojektion. So dokumentiert die Video-Installation den Protest, doch ist zugleich der Protest die künstlerische Arbeit, die durch die Kameras festgehalten wird. Es ergibt sich eine unauflösbare Verquickung von Kunst und politischer Aktion, Kunst als Widerstand und Widerstand als Kunst.
Die libanesisch-ägyptische Künstlerin und Historikerin Bahia Shehab reagierte auf eine Einladung, an der Ausstellung „The Future of Tradition – the Tradition of Future“ – Hundert Jahre nach der Ausstellung „Meisterwerke Muhammedanischer Kunst“ in München im Haus der Kunst 2011 teilzunehmen, mit einer Wandarbeit mit dem Titel „Nein“. Sie zeigte tausend verschiedene arabische Schriftzeichen, die das Wort Nein repräsentierten – eine Art stillen Protests gegen die Ausstellung, von der sie befürchtete, dass sie doch nur Klischees über den Islam wiederholen würde. Ein Jahr später begannen die Demonstrationen und Unruhen in Ägypten, und Bahia Shehab verwandelte die Idee des tausendfachen Neins, indem sie die Schriftzeichen überall in Kairo an Wände sprühte. Sie ergänzte diese durch fünf Schablonen, die in vereinfachter Form den Kopf eines Sterbenden, einen Büstenhalter, ein Auge, Gefängnisgitter und eine Kombination von Rotem Halbmond und fünf Rauten zeigten. Die Beischriften lauteten: „Es gibt Menschen, deren Haupt niedergedrückt wurde, damit Du Deines hochtragen kannst; es gibt Menschen, die nackt ausgezogen wurden, damit Du in Würde leben kannst; es gibt Menschen, die ihr Augenlicht verloren haben, damit Du sehen kannst; es gibt Menschen, die eingekerkert wurden, damit Du in Freiheit leben kannst; es gibt Menschen, die starben, damit Du leben kannst.“ Nachdem die Graffiti von der Obrigkeit entfernt worden waren, kursierten Photos von ihnen im Netz, und drei Wochen später druckte eine Zeitung einen Bericht über die Aktion direkt unter dem Photo Mubaraks, wie er auf dem Krankenbett seinem Prozess folgte.
Krishnaraj Chonats Wand giftigen IT-Mülls bei der Expo „Paris Delhi Bombay“ 2010-11.
Krishnaraj Chonat aus Bangalore in Indien nutzt unterschiedlichste Medien, um Kunstobjekte zu gestalten, die von komprimierten persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen erzählen, die doch für alle bedeutsam sind. Bei dem Versuch, die sozialen und ökologischen Konflikte einer schnellen Verstädterung der Gesellschaft zu begreifen und auszudrücken, hat Chonat eine spezifische visuelle Sprache entwickelt, die die Gegensätze von Material und Konzept verbindet. So hat er bei der Gruppenausstellung „48 Degrees“ zum Thema „public, art, ecology“ 2010 in New-Delhi einen entwurzelten Sandelholzbaum gezeigt, der kopfüber an einem hohen Kran hing. Diese klare und drastische Installation wurde ohne weiteren Kommentar als Widerspruch und Einspruch gegen die sinnlose Abholzung wertvoller Bäume verstanden. Sie war aber zugleich auch ein sinnliches und ästhetisches Erlebnis.
Der in Madrid geborene Künstler Santiago Sierra, der in Hamburg studiert und lange in Mexiko gelebt hat, wurde durch seine bitterbösen, heftig diskutierten Aktionen bekannt. Er treibt die Mechanismen, die er kritisieren will, auf geschmacklose Weise auf die Spitze, um zu zeigen, wie abstoßend und menschenverachtend sie sind. Meist geht es darum, Menschen für unsinnige oder entwürdigende Tätigkeiten zu bezahlen: Arbeitslose dafür, tagelang unter Bänken oder in einem Karton zu liegen, schwarze Immigranten in Venedig, sich die Haar blond färben zu lassen, oder heroinabhängige Prostituierte, sich gemeinsam eine Linie auf den Rücken tätowieren zu lassen: Das Honorar bestand in einem Schuss Heroin. Wenn Sierra Lohnarbeiter dafür bezahlt, sich in einer Reihe gemäß ihrer Hautfarbe aufzustellen, und dadurch eine formale Idee – die eines langsamen Farbübergangs von Weiß zu Schwarz – mit dem Vorgang des Anheuerns und Feuerns von Arbeitskräften verbindet, die für jeden Lohn jede noch so widersinnige Arbeit zu verrichten bereit sind, wird am deutlichsten, dass Sierra eine Kunst, die keine politische Intention verfolgt, für obszön hält. Nicht seine Aktionen verstoßen gegen den guten Geschmack (das tun sie auch), sondern die Verhältnisse, gegen die er sich richtet, sind in seinen Augen anstößig und widerwärtig. Die letzte spektakuläre Aktion Sierras bestand in einem Autokorso mit Luxuslimousinen, mit denen er auf den Kopf gekehrte Aufnahmen von Politikern mit dem Wort „NO“ durch die Straßen von Madrid fuhr, um gegen die Spanien auferlegten Sparmaßnahmen zu protestieren.
NO im Europa der EURO-Krise und LA=Nein im Arabischen Frühling: Heute kann, wie Frantz Fanon schreibt, nichts mehr als ausschließlich europäisch, amerikanisch, chinesisch, indisch oder afrikanisch gelten. „Die gesamte Welt ist unser Erbe; kultureller Ausdruck, Kreativität und Innovation bedeuten heute nicht mehr, an toten Bräuchen festzuhalten, sondern vielfältige Wege auszuhandeln, die Welt zu bewohnen“, schreibt Achille Mbembe, afrikanischer Intellektueller und Philosoph. Kunst beteiligt sich an diesem Prozess der Aushandlung. Wendet sie sich nicht gegen herrschende Miss-Stände, ist sie in Sierras Augen nutzlos. Ihm oder Bahia Shehab, Alex Monteith oder anderen Künstlerinnen und Künstlern vorzuwerfen, ihre Kunst sei scheinheilig, da das System, das sie kritisieren, sie ja auch ernähre, ist ein billiger Vorwurf. Denn was dabei ausgeblendet wird, ist, dass die Schwierigkeit in einer globalisierten Welt gerade darin besteht, in einem Geflecht von Widersprüchen und Widersprüchlichkeiten noch Stellung zu beziehen. Diese einander widersprechenden Strömungen, die sich gerade auch in politischen und gesellschaftlichen Krisenzeiten und -zonen manifestieren, überhaupt offenzulegen und umgekehrt in totalitär regierten Ländern scheinbarer Ruhe beharrlich darauf hinzuweisen, dass etwas einfach „nicht stimmt“, ist oft die gefährdete Position, die Künstlerinnen und Künstler einnehmen. Dass sie dabei scheitern können, ist nicht ihnen allein anzulasten. Es ist ihnen hingegen hoch anzurechnen, wenn sie es überhaupt versuchen.
Leonhard Emmerling, Leiter des Bereichs Bildende Kunst, und Enzio Wetzel, Leiter des Bereichs Kultur und Entwicklung, arbeiten in der Zentrale des Goethe-Instituts in München. Dieser Artikel erscheint zeitgleich auch unter www.goethe.de/entwicklung.
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