Europas imperiale Restbestände

Von Stefan Brocza · · 2014/05

Die so genannten überseeischen Länder und Hoheitsgebiete (ÜLG) verfügen über eine privilegierte Beziehung zur Europäischen Union. Doch die Unterstützung der modernen Kolonien wird innerhalb der EU zunehmend in Frage gestellt.

Was hat die weltgrößte Insel Grönland mit dem winzigen Pitcairn im Südpazifik oder den Cayman-Inseln gemeinsam? Sie gehören – zusammen mit rund zwei Dutzend anderer Inseln – zu den so genannten überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten (ÜLG) der EU. Diese Überbleibsel ehemaliger Kolonialreiche sind weiterhin unfrei, aber privilegiert assoziiert mit der EU.

Alle ÜLG sind parlamentarische Demokratien und Inseln mit kleiner Bevölkerung. Da die Gebiete keine unabhängigen Staaten sind, können sie keine eigenständige Außenpolitik betreiben. Sie genießen unterschiedliche Formen von (Semi-)Autonomien im Bereich von Politik, Verwaltung und Rechtsprechung. Sie sind nicht Teil der EU; europäisches Recht gilt nur insoweit, als es in speziellen Abmachungen und Verträgen ausgehandelt wurde. ÜLG-BewohnerInnen sind allerdings im Regelfall auch EU-UnionsbürgerInnen mit allen Rechten (Personenfreizügigkeit, Niederlassung). Denn: Sie besitzen immer auch die Staatsbürgerschaft ihres Mutterlandes (also der ehemaligen Kolonialmacht). Die schmalen, zumeist auf Dienstleistungen beschränkten Wirtschaften sind in großem Maße von Waren- und Energieimporten abhängig.

Die Assoziierung zur EU legt Brüssel mittels Beschluss fest. Der EU-Ministerrat erlässt einstimmig einen so genannten Assoziierungsbeschluss. Am 25. November 2013 hat der Rat den jüngsten Beschluss angenommen. Durch klarere Bestimmungen im Bereich Handel soll der in der Vergangenheit immer wieder vorkommende Missbrauch der Ursprungsregeln verhindert werden. „Steueroasen“ sollen zur Übernahme der einschlägigen EU-Finanz-Transparenzvorschriften verpflichtet werden.

Projekte und Investitionsprogramme in den ÜLG werden von der EU aus Geldern des Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) ähnlich der Entwicklungszusammenarbeit mit den AKP-Staaten (Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, meist ehemalige Kolonien von Großbritannien und Frankreich) finanziert. Da die ÜLG über die Mitgliedstaaten, zu denen sie gehören, eng mit der EU verbunden sind, gilt für sie eine der günstigsten jemals geschaffenen Handelsregelungen: De facto handelt es sich um einen freien Zugang zum europäischen Markt.

Diese besondere Beziehung ist auch der Grund, weshalb die Finanzhilfe an die ÜLG aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) etwa sechs Mal so hoch ist wie die durchschnittliche Zuwendung an die übrigen aus dem EEF bedachten AKP-Staaten.

Im künftigen 11. Europäischen Entwicklungsfonds (2014-2020) sind Zahlungen in der Höhe von 343,4 Millionen Euro vorgesehen. Grönland ist ein Sonderfall. Die Insel war ja ursprünglich Teil der EG und ist erst nachträglich wieder ausgetreten, primär zum Schutz seiner Fischereiwirtschaft. Grönland bekommt weitere 217,8 Millionen Euro aus dem allgemeinen EU-Budget.

Zunehmend wird diese außerordentliche Finanzhilfe innerhalb der EU jedoch kritisiert. Zwar werden die ÜLG als Vorposten der EU und somit als Repräsentantinnen europäischer Werte verstanden. Allerdings wird – vor allem seit der EU-Osterweiterung 2004 – immer öfter die Frage gestellt, ob es sinnvoll ist, die ÜLG weiterhin in dieser Form zu fördern. Denn: Viele der ÜLG sind alles andere als arm. Die britischen Jungferninseln (100 Kilometer östlich von Puerto Rico in der Karibik gelegen) erwirtschaften über 50 Prozent der Staatseinkünfte als Offshore-Finanzplatz. Sie dienen als Sitz für abertausende Briefkastenfirmen. Diese unterliegen keiner Besteuerung und genießen einzigartige Anonymität. Die Einnahmen stammen aus Gründungsgebühren und geringen Sitzgebühren. Durch die Menge der Briefkastenfirmen ergibt sich die Höhe der Einnahmen.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Cay­man-Inseln, ebenfalls eine „Steuer­oase“, hat bereits den EU-Gemeinschaftsdurchschnitt erreicht und liegt damit pro Kopf höher als etwa in Bulgarien oder Rumänien. Diese Länder müssen allerdings über ihre anteiligen EU-Entwicklungszahlungen weiterhin die ÜLG unterstützen. Großbritannien hat aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung seine bilaterale Entwicklungshilfe für einige seiner eigenen ÜLG überhaupt einstellt.

Die ÜLG, die über den ganzen Globus verteilt sind, sind trotz aller Gemeinsamkeiten vielfältig: Neben Offshore-Finanzplätzen gibt es Gebiete, wo es nur Tauschhandel und Subsistenzwirtschaft gibt. Die Pitcairn-Inseln nordöstlich von Neuseeland etwa, wo rund 50 Menschen leben – Nachfahren der legendären Meuterer der Bounty und ihrer polynesischen Frauen.

Die südöstlich der Bahamas liegenden britischen Turks- und Caicos-Inseln gelten als Umschlagplatz für südamerikanische Drogen auf ihrem Weg in die USA bzw. Europa. Das Diego Garcia-Atoll im Indischen Ozean ist Teil der britischen Gebiete. Die Insel ist allerdings langfristig an die USA verpachtet, die dort einen Militärstützpunkt betreiben.

Um zu verstehen, wie die inhomogene Gruppe der ÜLG entstanden ist, muss man zurückblicken: Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in den 1950er Jahren waren außer Deutschland und Luxemburg alle Gründungsstaaten noch Kolonialmächte. Deshalb sahen bereits die Gründungsverträge spezielle Vorschriften für die damaligen Kolonialgebiete vor: eine besonders enge Assoziierung. Mit der in den 1960er Jahren beginnenden Entkolonialisierung veränderten sich auch die Rechtsbeziehungen zu den Überseegebieten. Die meisten wurden unabhängig und fielen so automatisch aus der in den EG-Verträgen weiter vorgesehenen Assoziierung. Eine immer kleiner werdende Gruppe von überseeischen Ländern und Gebieten verblieb jedoch in diesem Sonderstatus. Ihre Zahl erhöhte sich nochmals durch den EG-Beitritt Großbritanniens sowie Dänemarks.

Die ÜLG lehnten eine Unabhängigkeit durchwegs selbst ab. Einerseits aufgrund negativer Beispiele in der unmittelbaren Nachbarschaft – schlechte Entwicklungen anderer Gebiete machten einen Verbleib bei der Kolonialmacht interessant. So waren etwa die Komoren mit ihrer turbulenten Geschichte von Putschen und Sezessionsbestrebungen ein schlechtes Vorbild für die Menschen auf der bei Frankreich verbleibenden Insel Mayotte.

Auf der anderen Seite handelt es sich bei den ÜLG um sehr alte Kolonien ohne ursprüngliche Bevölkerung. Die dort seit Generationen lebenden Menschen verstehen sich daher originär als FranzösInnen, BritInnen etc. Und sie profitieren von den einzigartigen wirtschaftlichen Möglichkeiten durch den Zugang zum EU-Binnenmarkt.  Umgekehrt besteht in vielen Fällen seitens der Mutterländer allenfalls geostrategisches Interesse. Völkerrechtlich können die ÜLG aber nicht einseitig vom Mutterland „hinausgeschmissen“ werden. Dafür wäre ihre Zustimmung nötig.

Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Angelegenheiten. Er lehrt an den Universitäten Wien und Salzburg.

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