„Ein neues Selbstwertgefühl“

Von Namrata Bali · · 2003/02

Eine Frauengewerkschaft mit Hunderttausenden Mitgliedern, mit eigener Bank und Versicherung, einer eigenen Gesundheitsversorgung und einem Ausbildungszentrum für Funktionärinnen – wo gibt es denn so etwas? In Indien. Mit der Geschäftsführerin dieser Organisation, Namrata Bali*, sprach Werner Hörtner.

SÜDWIND: Die Self Employed Women Association – SEWA – ist ja schon 30 Jahre alt, und so viel ich weiß, ist es nicht nur die älteste, sondern auch die größte Organisation dieser Art weltweit. Was sind nun die Gründe für diese Erfolgsgeschichte von SEWA?
Namrata Bali:
SEWA ist eine sehr indische Bewegung. Sie begann in der Stadt Ahmadabad im Bundesstaat Gujarat, die war damals ein Zentrum der Textilindustrie. Doch in den letzten Jahren erlitt diese Branche – besonders in Ahmadabad – eine schwere Krise. Von den etwa 40 Textilfabriken vor 30 Jahren existieren heute nur mehr sechs. SEWA zeigte sich dieser Entwicklung gegenüber sehr sensitiv. Wir verstanden die wirklichen Probleme der armen Menschen, und wir sahen auch den Unterschied in der Situation der ArbeiterInnen in den Unternehmen und jenen im informellen Sektor oder in der Heimarbeit. Und unsere Stärke war und ist es eben, diese Armen zu organisieren, sie hinter gemeinsamen Interessen zu vereinigen. Das ist unsere Stärke, und das ist wohl auch die Erklärung für unseren Erfolg.

SEWA arbeitet ja in vielen Sektoren und mit verschiedensten Bevölkerungskreisen, am Land und in der Stadt. War diese Vielfalt von Anfang an angelegt oder hat sich das im Lauf der Zeit entwickelt?
Wie ich schon erwähnte, begannen wir in Ahmadabad, also im urbanen Raum, und so war auch unsere Klientel städtisch: Straßenverkäuferinnen, Marktfrauen, Textilarbeiterinnen, Trägerinnen. In den späten 70er Jahren erlebte Gujarat eine schwere Dürre, und viele Menschen wanderten in die Städte ab. Sie erzählten uns von ihren Familienangehörigen, die in den Dörfern zurückgeblieben waren, und ersuchten uns, unsere Arbeit auf die ländlichen Regionen auszuweiten. So begannen wir also auch im ländlichen Raum aktiv zu werden. Heute ist nur mehr ein Drittel unserer Mitgliedschaft städtisch, die anderen zwei Drittel leben am Land.
Viele unserer Mitglieder sind Heimarbeiterinnen, das ist ein Sektor, der stark anwächst. Viele Fabriken und Industrien sperren zu, und die Arbeiterinnen arbeiten nun zu Hause weiter. Die Wohnung wird zum Arbeitsplatz. Das ist ein großer Vorteil für die Auftraggeber, denn diese ersparen sich alle Nebenkosten. Bei den in SEWA organisierten Heimarbeiterinnen haben wir 74 verschiedene Berufssparten.

Wieso haben denn in dieser Region so viele Textilfabriken zugesperrt?
Da gibt es verschiedene Gründe. Vor allem die diesbezügliche Politik unserer Regierung. Wir begannen, Baumwolle und Technologie für die Textilverarbeitung zu importieren. Dadurch stiegen die operativen Kosten in der Textilindustrie stark an, und die Unternehmen konnten im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten.
Es ist aber nicht so, dass nun viel weniger Textilien produziert würden. Die Produktion ist jedoch in viel kleinere Einheiten, also in Sweatshops, oder überhaupt in die Wohnungen verlagert worden. Von den männlichen Arbeitern der Textilindustrie sind die meisten arbeitslos geworden, die Arbeiterinnen hingegen sind in den informellen Sektor abgestiegen und sind nun als Putzerinnen oder Straßenverkäuferinnen oder eben als Heimarbeiterinnen tätig.

SEWA ist zwar eine Gewerkschaft, doch eure Arbeit geht ja weit über die traditionelle Gewerkschaftsarbeit hinaus. Was sind nun die eigentlichen Zielvorstellungen von SEWAs Arbeit?
Ja, wir sind eine Gewerkschaft, und ich finde, jede Gewerkschaft hat die Verantwortung, sich um die Sicherheit ihrer Mitglieder zu kümmern. In Indien haben wir kein allgemeines Sozialversicherungssystem, und so fällt es unter die Verantwortung der Gewerkschaft, für die soziale Sicherheit der Mitglieder zu sorgen. Und besonders, wenn die Mitglieder aus dem informellen Sektor stammen, die ja überhaupt keine Versicherung und staatliche Fürsorge genießen. So ist unser Ziel ganz klar: es ist, allen unseren Mitgliedern ein gewisses Maß von sozialer Wohlfahrt zur Verfügung zu stellen. Zu sehen, dass alle unsere Mitglieder das ganze Jahr hindurch Arbeit haben, dass sie zumindest ein Dach über dem Kopf, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und irgendwelche Produktionsmittel haben.
Ein anderes Ziel ist Vollbeschäftigung und Selbstvertrauen. Damit meinen wir nicht nur ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch ein neues Selbstwertgefühl gegenüber der männlich dominierten Umwelt, so dass Frauen individuell und kollektiv Führungspositionen einnehmen können. Deshalb ist für uns die fachliche Ausbildung unserer Mitglieder wichtig, aber auch die Förderung von Selbstvertrauen und Selbstsicherheit.

SEWA hat auch eine eigene Bank aufgebaut. Wie kam es zur Gründung dieser für eine Frauengewerkschaft nicht gerade sehr üblichen Einrichtung?
Zwei Jahre nach unserer 1972 erfolgten Gründung gab es ein staatliche Initiative, dass Banken auch ein Kreditprogramm für die armen Bevölkerungsschichten einführen sollten. Staatliche Banken wandten sich dann mit der Bitte an uns, wir sollten ihnen bei der Krediterteilung für die Armen helfen, da sie ja mit denen keinen Kontakt hatten. Doch es gab verschiedene Probleme mit diesem Programm.
Bei einer Mitgliederversammlung, zu der 6000 Frauen kamen, hatte eine der Frauen die Idee, wir sollten eine eigene Bank gründen. Doch zur Gründung einer Bank braucht man 100.000 Rupien Startkapital, das war eine Riesensumme für uns. So begannen wir eine Sammelaktion, gingen von Tür zu Tür, und in sechs Monaten hatten wir das Geld beisammen. Doch als wir die Bank als Genossenschaft anmelden wollten, sagte uns der Beamte in der zuständigen Behörde: Ihr könnt keine Bank gründen, ihr seid arm und Analphabeten. Wie wollt ihr in einer Bank arbeiten, wenn ihr nicht einmal lesen könnt? Ihr geht sofort bankrott!
Aber schließlich gelang es uns, alle Schwierigkeiten zu überwinden, und wir wurden als Bank registriert. Heute haben wir über 300.000 Mitglieder, alles Frauen, die zur Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebenssituation bei der Bank einen Kredit aufnehmen können.

Habt ihr euch diese Idee von der Grameen-Bank in Bangladesch abgeschaut?
Nein, ganz im Gegenteil. Muhammad Yunus, der Gründer der Grameen-Bank, besuchte unsere Bank 1976 oder 77 und studierte unser System. Erst dann wurde die Grameen-Bank in Bangladesch gegründet.

Erhalten Sie auch von staatlichen Stellen Unterstützung für Ihre Arbeit?
Ja, für verschiedene Programme, die wir durchführen, zum Beispiel in der Wasserversorgung ländlicher Gebiete. Das Wasserholen ist ja normalerweise ein Frauenjob bei uns, und oft müssen die Frauen vier oder fünf Kilometer weit gehen, um einen Eimer Wasser zu holen. Wir ermutigen und befähigen nun die Frauen, alte Techniken des Wassersammelns, auch des Regenwassers, wieder zu beleben. Im städtischen Raum arbeiten wir mit Gemeindeverwaltungen zusammen, um für die armen Familien in den Slums sieben Grundbedürfnisse sicherzustellen, darunter eben die Wasserversorgung, Kanalisierung, Strom, WC.
Wir erhalten für unsere eigenen Programme auch aus dem Ausland Unterstützung, so arbeiten wir z.B. mit der GTZ zusammen, der deutschen Entwicklungshilfe-Organisation.

Gibt es SEWA nur im Bundesstaat Gujarat?
Es gibt in Indien sechs SEWAs in verschiedenen Staaten, aber das sind alles unabhängige, autonome Organisationen. Unser verbindendes Element ist, dass wir die selbe Ideologie haben, die selben Prinzipien und das selbe Ziel: für die Frauen im informellen Sektor zu arbeiten. Wir haben eine Dachorganisation gebildet, die wir SEWA India nennen.
Wir breiten uns auch international aus. In Südafrika haben wir bereits eine Organisation für Heimarbeiterinnen gebildet, die SEWU, und nun wird gerade in der Türkei, in Istanbul, eine ähnliche Einrichtung aufgebaut. In unser Ausbildungszentrum, die SEWA-Akademie, kommen jährlich zahlreiche Gruppen aus anderen Ländern, um sich unsere Arbeit anzuschauen und Ideen für die eigene Organisierung zu holen.

Namrata Bali studierte Textildesign, arbeitet seit 17 Jahren bei SEWA und ist seit dem Vorjahr Geschäftsführerin dieser Frauengewerkschaft – der weltweit größten Gewerkschaft von Heimarbeiterinnen mit über 300.000 Mitgliedern. Sie leitete zehn Jahre lang

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