„Die Situation auf der Welt ist positiv“

Von Redaktion · · 2004/07

Der polnische Star-Journalist und Buchautor Ryszard Kapuscinski wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis 2003 ausgezeichnet. SÜDWIND-Redakteurin Irmgard Kirchner sprach mit ihm über Europa und die wahren Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Der „polnische Wunderkopf, der innere und äußere Erdteile bereist“ (André Heller) besuchte kürzlich auch Wien: Hier nahm der viel dekorierte 72-jährige „Journalist des Jahrhunderts“ Ende Mai eine weitere Auszeichnung entgegen: den Bruno Kreisky Preis für das politische Buch 2003.
Ryszard Kapuscinski hat seit den 1950er Jahren in Afrika, Asien und Lateinamerika als Korrespondent gearbeitet, 22 Bücher geschrieben und sich eine euphorische LeserInnengemeinde geschaffen.
Der große alte Mann kommt gerade aus Venezuela zurück. Dort sei die Situation im Wesentlichen stabil, meint Kapuscinski, vieles sei lediglich Propaganda, politischer Kampf auf der Ebene der Worte. Präsident Hugo Chávez werde von den Armen aus den Städten und Dörfern, viele davon AnalphabetInnen, unterstützt. Venezuela erlebe eine Spaltung entlang Klassenlinien.
Der Eindruck, die Gesellschaft sei gegen Chávez, entstehe vor allem deshalb, weil sich die Bourgeoisie gegen den populistischen Führer stellt. Und diese Schicht kontrolliert Venezuelas Medien.

In seiner Laudatio bei der Kreisky-Preis-Verleihung lobte André Heller den Preisträger als jemanden, der seine Leserschaft „auf die Gipfel und in die Abgründe der Conditio Humana begleitet“ und dabei nicht hart, stumpf, weinerlich oder zynisch werde; als jemanden, dessen Denken dadurch noch weitere Schärfung erfahre.
Dabei gibt sich Kapuscinski nicht als unverbesserlicher Optimist, sondern schlicht als Realist: „Die Situation auf der Welt ist sehr positiv.“ In allen Konflikten auf der Welt sei weniger als ein Prozent der Menschheit involviert. Die anderen 99 Prozent lebten in Frieden, darunter so große Länder wie China, Indien, Brasilien.
Kapuscinski: „Das 21. Jahrhundert ist ein multikulturelles Jahrhundert. Viele alte Kulturen sind seit kurzem unabhängig und sehr stolz darauf. Wir müssen diese Menschen und ihre Kulturen vollständig respektieren.“

Den oft postulierten „Zusammenprall der Kulturen“ hält er für ein US-amerikanisches Konzept, entstanden angesichts der Unbeeinflussbarkeit und der Undurchdringbarkeit von China und der islamischen Welt seitens der USA.
Aus Europa hingegen stamme eine andere Denkschule, vertreten durch Malinowski und Mauss*: die Idee des Austausches von Werten zwischen Zivilisationen, die sich dadurch gegenseitig stärken.
Doch auch die Europäer müssten lernen, dass sie auf einem multikulturellen Planeten leben. Inmitten von vielen Kulturen, die Respekt verdienen, die als Partner im Dialog behandelt werden müssen. „500 Jahre lang hat Europa die Welt beherrscht: wirtschaftlich, politisch, sogar kulturell. Jetzt verliert Europa, das die Regeln diktiert hat, seine dominante Position, ist zwar immer noch wichtig in der Welt, aber eine Zivilisation unter anderen.“
Wie steht Kapuscinski zu einem EU-Beitritt der Türkei? „Das hängt davon ab, was man unter einer europäischen Identität versteht. Wenn man die Türkei aufnimmt, gibt es keinen Grund, die Maghreb-Staaten abzulehnen. Wir müssen Kriterien etablieren, was wir unter der europäischen Union verstehen. Dann wird das Problem Türkei automatisch gelöst. In der einen oder anderen Weise.“

Ein immer wieder kehrendes Thema in Kapuscinskis Werken ist „Macht“. Für wie mächtig hält er seinen Berufsstand, die Journalisten – etwa um eine „bessere Welt“ zu schaffen? „Wir können den Verlauf von Ereignissen nur indirekt beeinflussen. Indem wir Stimmung, Atmosphäre schaffen, auf das Bewusstsein der Leute einwirken.“
Er selbst betrachtet die Welt als den Kontext seines Schreibens: „Wir dürfen die Proportionen nicht übersehen. Der Sender CNN etwa vermittelt, dass es auf diesem Planeten außer dem Irak nichts gibt.“ Dabei sei Irak ein kleines, nicht sehr wichtiges Land. „Über den riesigen Rest der Welt kommt nichts vor. Die Herangehensweise der großen Mediennetzwerke ist irreführend. Das ist reine Manipulation.“ Über ganze Kontinente erfahre man nichts. „Wird jedoch ein US-amerikanischer Soldat getötet, weiß es die ganze Welt.“
Kapuscinski: „Die echten Probleme der Welt sind nicht der Irak oder der Krieg gegen den Terror. Die echten Probleme sind jene der Mehrheit der Menschheit: Armut, Krankheit und der Mangel an Bildung.“
Militärische Konflikte seien nur ein Teil der Realität. Und: „Über die Realität zu schreiben, ist die Verpflichtung von Journalisten.“


*) Bronislaw Malinowski (1884-1942), geb. in Polen, einer der wichtigsten Vertreter der britischen Sozialanthropologie.
Marcel Mauss (1872-1950), französischer Soziologe und Ethnologe.

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