Nach dem Erdbeben war sie kurz da: die Aufmerksamkeit für Haiti. Der haitianische Autor Louis-Philippe Dalembert ist der beste Beweis, dass die karibische Insel auch weiterhin unsere Aufmerksamkeit verdient.
Wie durch ein Wunder steht es noch, wenn auch nur sehr wackelig. Das Häuschen, in dem er die ersten sechs Jahre seines Lebens verbracht hat. Am Tag nach dem schweren Erdbeben in Haiti besuchte der Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert die Orte seiner Kindheit. Abgesehen von dem Häuschen erkannte er nichts mehr in Bel-Air, dem Armenviertel der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Während die internationalen Medien von Plünderungen berichteten, erzählt er von der Solidarität der BewohnerInnen. Davon, wie die Menschen einander halfen, Essen und Wasser teilten.
Dalembert spricht nicht gerne über die Politik in Haiti oder über die Armut. In seinen Texten möchte er ein anderes, ein positiveres Bild seiner Heimat vermitteln. Bei seinen Lesungen erzählt er lieber Alltagsgeschichten. „Ich will nicht immer zu den Problemen in Haiti befragt werden“, sagt er. Haiti sei mehr als Naturkatastrophen und politische Krisen. „Haiti ist ein paradoxes Land.“ Es ist arm, und dennoch reich. Reich an Kultur, von der Malerei über das Kunsthandwerk bis hin zur Literatur (siehe SWM 06/09). Eine Besonderheit in Haiti ist die mündliche Erzähltradition, die aber immer weniger gepflegt wird. Ein wichtiger Autor dieser Literaturgattung war Georges Anglade. Er hat das Erdbeben im Jänner nicht überlebt.
Dalembert schreibt hauptsächlich auf Französisch, Lyrik verfasst er teilweise auf kreolisch. Er bezeichnet sich gerne als „Vagabund“. Als jemand, der ständig umher reist und nie lange an einem Ort bleibt. „Reisen ist für mich wie eine Droge“, sagt er. „Es ist meine Obsession.“ Eine Obsession, die sein ganzes Leben bestimmt hat: Mit 16 Jahren verließ er Haiti und ging nach Frankreich. Dort studierte er in Paris, ging dann nach Rom, kehrte für kurze Zeit nach Haiti zurück. Er reiste durch Südamerika und verbrachte einige Jahre in Israel.
Zurzeit lebt er in Berlin. Seine Wohnung macht den Eindruck, nicht zum Bleiben einladen zu wollen, sondern lediglich zum vorübergehenden Verweilen. Die Einrichtung ist auf das Notwendigste beschränkt und seine Stimme hallt in den hohen halb leeren Räumen. Es gibt keine Dekoration, nur ein paar Bilder an den Wänden.
„Der Mensch bewohnt die Zeit, nicht den Raum“, meint Dalembert. Der Begriff Heimat ist für ihn nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Heimat sei überall, wo man sich wohlfühlt.
Dennoch gibt es im Leben des unruhigen Reisenden Fixpunkte: sein Geburtsland Haiti beispielsweise, das er vor allem mit Erinnerungen an seine Kindheit verbindet. Ein Motiv, das in seinen Gedichten und Romanen immer wieder auftaucht. Für ihn ist das Leben eine große Reise: „Jeder Mensch wohnt während seines Lebens in verschiedenen Ländern, auch wenn er nicht reist. Eines dieser Länder ist die Kindheit.“
Schon als Kind war er von der Ferne fasziniert. Er wohnte mit seiner Familie in der Nähe des Hafens, wo er die ein- und auslaufenden Schiffe beobachtete. „Ich fragte mich immer, woher sie kamen und wohin sie fuhren“, erinnert er sich. Reise, Abschied und Rückkehr sind zentrale Motive in Dalemberts literarischem Werk. So kehrt der Protagonist seines Romans „Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ nach jahrelanger Reise in seine Heimat zurück und begibt sich auf die Suche nach seiner Kindheit. Ebenso in „Histoires d’amour impossibles, ou presque“, einer Sammlung von Kurzgeschichten über fast unmögliche Liebesverhältnisse: In einer der Geschichten kehrt ein Mann nach Tunis zurück, um ein Mädchen zu finden, das er aus seiner Kindheit kannte.
Dalembert hat sich verabschiedet, rein politische Texte zu schreiben, wie er es am Anfang seiner literarischen Karriere gemacht hatte. Als jemand, der während der Diktatur unter François Duvalier aufgewachsen ist, schien es ihm unmöglich, sich nicht politisch zu äußern. „Ich dachte, ich könnte die Diktatur mittels der Poesie zum Sturz bringen“, sagt er. Er arbeitete damals als Journalist für das Radio.
Auch wenn Dalemberts Texte heute nicht mehr explizit politisch sind, äußern sie doch auf subtile Weise Kritik. Zum Beispiel, wenn es um Liebesgeschichten geht, die über soziale Klassen hinweg bestehen und genau deswegen scheitern. Oder wenn der kleine Junge im Roman „Rue du Faubourg Saint-Denis“ in seiner kindlichen Naivität kritische Fragen stellt, die ihm nicht beantwortet werden.
Dalembert ist ein Beobachter. Auf seinen Reisen gehe er gerne auf Märkte, besuche religiöse Stätten und Sportstadien. Nicht, um ein Match zu sehen, sondern die Menschen. Er interessiert sich dafür, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten. Stets nimmt er dabei die Position des Außenstehenden ein, des Vagabunden, der egal wo er hingeht, gleichzeitig zu Hause und zu Gast ist. „Ich weiß, woher ich komme, aber ich weiß nicht wohin ich als nächstes gehen werde“, lautet Dalemberts Lebensphilosophie. Die Geschichten, die er erzählt, spielen an unterschiedlichen Orten und könnten überall auf der Welt stattfinden. Das ist seine Art, den LeserInnen zu vermitteln, dass einem Haiti näher ist als man denkt. Dass es dort genauso Alltagssituation gibt, in denen man sich wiederfinden kann. Seine Literatur gibt Eindrücke von einem Land, das nicht nur bei Naturkatastrophen Aufmerksamkeit verdient.
Marina Wetzlmaier ist freie Journalistin und studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.
Im Rahmen der Tagung „Haiti: Ein vergessenes Land zwischen Europa und den Amerikas“ an der Universität Innsbruck von 2. – 3.12. wird Louise-Philippe Dalembert in Österreich sein. Nähere Infos unter: www.suedwind-tirol.at
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