KurdInnen-Experte Thomas Schmidinger warnt im Gespräch vor einem Bürgerkrieg in Irak-Kurdistan. Die Wirtschaftskrise habe sich seit Jahren abgezeichnet.
Wie groß sind derzeit die Chancen auf einen Kurdenstaat?
Nicht sehr groß. Eher sehe ich die Möglichkeit, dass es eine Rückkehr in die Situation des 19. Jhs. gibt, in der verschiedene autonome kurdische Fürstentümer an der Peripherie der großen Reiche nebeneinander existierten.
Welche Regionen würden sich bilden?
Das wird man sehen. Auf jeden Fall würden sich wohl Rivalen gegenüberstehen, wie etwa die PDK in Irak-Kurdistan und die PYD in den syrisch-kurdischen Gebieten mitsamt ihren paramilitärischen Gruppen. Man muss zudem die sprachlichen und religiösen Gegensätze beachten.
Was würde das für die KurdInnen bedeuten, die jetzt von einem eigenen Staat träumen?
Autonome Gebiete würden wahrscheinlich ein Mehr an kulturellen Rechten bringen. Was nicht zwangsläufig mehr demokratische Rechte bedeutet. In Irak-Kurdistan wird Masud Barzani und der PDK ein sehr autoritäres Regime vorgeworfen. Auch andere kurdische Führer sind nicht die geborenen Demokraten. Was nicht heißt, dass daraus nicht demokratische Verhältnisse erwachsen könnten. Aber die rivalisierenden Parteimilizen sind nicht die beste Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung.
Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler an der Uni Wien, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie und Vorstandsmitglied der im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisation Liga für emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit (LEEZA). 2014 ist von Schmidinger das Buch „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“ erschienen.
Viele Menschen verlassen die Autonome Region Kurdistan wegen fehlender Perspektiven. War die Wirtschaftskrise absehbar?
Ja, seit Jahren! Es war immer schon eine Klientelwirtschaft mit einer überbordenden Bürokratie. Wer mit der Regierung verbandelt ist, dem geht es immer noch gut. Dabei handelt es sich wirklich um eine massive Krise.
Wie steht es um progressive demokratische Kräfte in Irak-Kurdistan?
Die sind stark marginalisiert. Die PUK, die zweitgrößte Partei, ähnelt der PDK in vielem. Und auch große Teile der Opposition kommen aus dem gleichen Milieu. Gorran, die größte Oppositionspartei, ist eine Abspaltung der PUK. Ob es unter Gorran zu einer großen Veränderung käme, ist fraglich.
Wie geht es in Irak-Kurdistan weiter?
Der Region stehen auf jeden Fall sehr unruhige Zeiten bevor. Dabei gibt es unterschiedliche Szenarien was passieren wird, etwa ein Bürgerkrieg. Die PKK könnte einen Teil des Gebietes übernehmen. Barzani könnte sich noch mehr an die Türkei annähern und sein Fürstentum etablieren. Auch der IS könnte die Situation ausnützen und in den Gebieten erstarken.
Interview: sol
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