Und wieder einmal liegt bei niemandem die Verantwortung für die systematischen Verletzungen von Menschenrecht und Menschenwürde – und schon gar nicht bei denen „dort oben“.
Um bedauerliche Übergriffe Einzelner würde es sich handeln und Missstände hätten sich eingenistet im Gefängniswesen, sogar Versäumnisse in der Truppenausbildung werden eingeräumt, erfahren wir in diesen Tagen zum Überdruss.
Schon im Juli 2003 hat Amnesty International die Haftbedingungen und Verhörmethoden in den irakischen Gefängnissen kritisiert, das Internationale Rote Kreuz hat mehrmals, zuletzt Ende Februar, auf die gravierenden Missstände hingewiesen. Doch „oben“ haben sie nichts gewusst von diesen Zuständen, und selbst nachdem sie in der Öffentlichkeit bekannt wurden, spendet der Präsident dieser weltbeherrschenden Macht seinem Verteidigungsminister in der Öffentlichkeit großes Lob für seine Verdienste.
Wieder einmal berufen sich die Täter und Täterinnen auf die Befehlsstruktur: Die brutalen Misshandlungen und Folterpraktiken seien angeordnet gewesen. Das mag stimmen. Und dass Befehlsverweigerung in den grausamen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts tödliche Folgen haben konnte, ist bekannt. Doch was wäre den Ausführenden der Misshandlungen geschehen, hätten sie sich nicht daran beteiligt, hätten vielleicht gar vorgesetzte Stellen oder Medien in der fernen Heimat davon informiert? Sich hier auf Befehlsnotstand zu berufen, erscheint mir eine weitere Verhöhnung der Opfer.
Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass hier im Namen einer Nation gehandelt wurde, die sich in ihrem Selbstverständnis als Mutter und Hüterin der Demokratie und der Menschenrechte betrachtet. Hier liegt wohl der große – und tragische – Unterschied zu den Diktaturen des 20. Jhs., in Europa und Asien und Lateinamerika, wo die Folterpraxis einen gängigen Bestandteil des Systems und der Machtsicherung darstellte.
Neben dem Grauen, das mich beim Anblick der Bilder aus Abu Ghraib erfasst, und dem Mitgefühl für die Opfer verspüre ich auch einen Schrecken vor der maßlosen Arroganz der Macht, die sich in diesen Szenen niederschlägt. Es ist die Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit einer Macht, sowohl kollektiv als auch individuell gesehen, die dem Anderen das Menschsein abspricht, ihn bewusst und systematisch erniedrigt, entwürdigt, verletzt, bis hin zur letzten Konsequenz, dem Tod. In physischer und psychischer Hinsicht.
Wie flüchtig ist doch die Menschlichkeit, wenn die Rahmenbedingungen die Freisetzung unserer destruktiven Energie erlauben oder gar fördern. Wie klein ist der Schritt vom harmlosen High-School-Boy oder Girl zum gnadenlosen Folterer. Neben der – für uns wahrscheinlich gar nicht mehr notwendigen – Bekräftigung in der Einschätzung der Weltmacht Nummer Eins können die schockierenden Bilder aus Iraks Gefängnissen vielleicht auch in dieser Hinsicht eine Lehre und eine Warnung sein: Die Humanität, das Unrechtsgefühl, die Toleranz sind noch ziemlich schwache Pflänzchen auf dem Nährboden der menschlichen Zivilisation. Ihre tiefere Verankerung könnte ein Lebensziel sein.