Das gläserne Dorf

Von Ina Ivanceanu · · 2003/02

Im kommunistischen Vorzeigedorf Beisuzha ist Kontrolle durch Öffentlichkeit das höchste Prinzip. Doch auch hier hält die neue Zeit unaufhaltsam ihren Einzug. Ein Lokalaugenschein von Ina Ivanceanu

Yingbi, die Mauer auf der Mauer, empfängt die Besucherin in Beisuzha (sprich: Beisuschá): ein buntes Fliesenbild, über vier Meter hoch, auf dem sich die chinesische Mauer ins Unendliche verliert. Die holprige Sandstrasse führt direkt auf die Mauer zu, um sich an ihr entlang rechts und links ins Dorf zu verzweigen. Der kleine Platz bei der Kreuzung bietet BesucherInnen die Möglichkeit, erste Kontakte zu knüpfen – mit den alten Frauen, die Mais schälend an der Ecke sitzen, mit dem Ehepaar vom Nebenhaus oder mit den jungen Männern, die in der Abenddämmerung auf ihren Mopeds knatternd auf und ab fahren. Hier empfängt Beisuzha auch seine offiziellen Gäste. Dem Besuch des Präsidenten Jiang Zemin verdankt die Bibliothek neben der Mauer ihren neuen, knalltürkisen Anstrich.
Das Dorf 400 km südlich von Peking gilt seit den 60er Jahren als Vorzeigemodell für kommunistische Ordnung und dörfliche Selbstverwaltung. „Kontrolle durch Öffentlichkeit“ heißt das Prinzip. Gegenüber der großen Mauer steht eine schwarze Schautafel, auf der Geburten, Hochzeiten und Scheidungen eingetragen werden – eine Aufforderung an die 1.600 DorfbewohnerInnen, sich an die Ein-Kind-Politik zu halten und Scheidungen zu vermeiden. Auf der Hausmauer daneben mahnen Sprüche dazu, die Partei zu stärken, Kredite zurückzuzahlen und die Strommasten nicht zu beschädigen. Fast jede Hauswand in Beisuzha ist mit solchen gemalten oder gekachelten Wandzeitungen versehen: das Spektrum reicht von Zitaten aus Reden von Jiang Zemin bis zu Zeichnungen, wie man Glühbirnen richtig einschraubt.

Gleich hinter dem Bild der großen Mauer liegt das politische Zentrum von Beisuzha. In dem einstöckigen Haus kommt regelmäßig unter dem väterlichen Portrait Maos das Dorfkomitee zusammen. Einzigartig daran: nicht die Zentralregierung bestimmt die 25 Mitglieder, sondern jeder einzelne Dorfbewohner selbst in freien Wahlen. Ob die Bäuerinnen und Bauern von Beisuzha Bäume oder Hirse anpflanzen sollen, wann eine neue Straße gebaut wird, wer wie viel Land erhält – das Dorfkomitee organisiert die Bauernkollektive und bestimmt die Verwendung der Steuergelder.
Das wichtigste Kommunikationsmittel steht in einem kleinen Hinterzimmer. Per Mikrophon ruft der Komiteesprecher seine Anweisungen und Informationen über Lautsprecher aus, die im ganzen Dorf verteilt sind. Wer seinen Strom nicht bezahlt hat, wird lautstark daran erinnert. Dafür wissen alle, wann der nächste Tanzkurs startet und wo die billigsten Wasserschläuche zu kaufen sind. Auch im Innenhof des Komiteebüros steht eine Schautafel, diesmal zur Dokumentation der individuellen Leistungen der DorfbewohnerInnen. Rote Sterne markieren etwa die Teilnahme an Weiterbildungskursen oder finanzielle Erfolge.
„Das Recht auf Wohlstand ist das höchste Gut”, verkündet ein gemalter Spruch bei der Einfahrt zum Dorf. Das hat sich An Wu Zhan zu Herzen genommen, der als einer der Ersten in Beisuzha ein erfolgreiches Privatunternehmen auf die Beine gestellt hat. Stolz präsentiert er die drei roten Bagger vor seinem Haus, die die enge Dorfstrasse fast blockieren. Das Geschäft geht gut. Mit seiner Baufirma hat er in der benachbarten Millionenstadt Heng Shui, nur sechs Kilometer vom Dorf entfernt, den Hauptplatz gebaut. Doch auch in seinem Hof stapeln sich nach wie vor die Maiskolben aus eigenem Anbau – „die Macht der Gewohnheit“ nennt das der Firmenbesitzer, denn mit Mais ließe sich heute kaum mehr Geld verdienen.
An Wu Zhan ist kein Einzelfall: Wie in ganz China leben auch in Beisuzha immer weniger Menschen von der Landwirtschaft. Die Preise für Mais und Baumwolle sinken, der Gemüseanbau in Glashäusern ist kostenintensiv, und natürliche Ressourcen wie Wasser werden knapp.

Die Regierung bemüht sich um Initiativen, die die Bauernschaft zum Experimentieren anregen. Im High Tech Center von Beisuzha, zwei Kilometer außerhalb des Dorfes, erproben AgrarexpertInnen neue Biogasanlagen, die von Schweinedung betrieben werden, züchten Bienen gegen Baumwollparasiten und stellen aus alten Schieferdächern reichhaltige Erde für die Glashäuser her.
Der Beitritt Chinas zur WTO im letzten Jahr wird die Veränderungen in der Landwirtschaft noch beschleunigen, so die WissenschaftlerInnen. Schon mehr als 500 BewohnerInnen (etwa ein Drittel der Dorfbevölkerung) arbeiten in den Städten der Umgebung, versuchen sich als Unternehmer oder kombinieren Ackerbau mit einträglicheren Aktivitäten. Und das vor allem im Dienstleistungssektor: In den zwei Geschäften des Dorfes kann man von Fleisch über Batterien bis zu Düngemittel und Kinderspielzeug praktisch alles erstehen.
Drei private Kliniken haben eröffnet, beim Dorfeingang bietet ein Frisörladen Massagen und altmodische Haarschnitte an, und seit einem Jahr gibt es eine Dampfnudelbäckerei. Hinter der neuen monetären Fassade verbergen sich Systeme, die ohne Geldfluss funktionieren: im Hof der Bäckerei tauscht ein alter Mann eine Tasse Mais gegen zwei frische, duftende Knödel, und in den Geschäften gehen zwei Säcke Mais für einen halben Sack Reis über die Ladentheke.

Das durchschnittliche Einkommen der DorfbewohnerInnen liegt nach Angaben des Dorfkomitees bei 3.000 Yuan im Jahr (ca. 360 US-Dollar) – relativ viel für chinesische Verhältnisse, wobei sich die Zahlen kaum nachprüfen lassen. Inzwischen leben etwa 30 der 400 Familien von Beisuzha in relativem Wohlstand; sie verdienen zwischen 5.000 und 10.000 Yuan im Jahr, und der Dorftratsch berichtet auch von zwei Millionärsfamilien. Dass die Einkommensunterschiede im Dorf immer größer werden, erzählt auch An Jing, die 22-jährige Nachbarstochter des Bauunternehmers. Sie arbeitet in der Glasfabrik im Nachbardorf, ihre Eltern sind immer noch Maisbauern. Die erfolgreichen Nachbarn zählen inzwischen zu den reichsten im Dorf, doch das hätte die Freundschaft zwischen den Familien nicht getrübt. Im Gegenteil: seit das Bauunternehmen so stark gewachsen ist, hat auch ihr Bruder dort eine Arbeit als LKW-Fahrer bekommen.
Was die junge Frau beschäftigt, ist der Traum von einem eigenen Geschäft. Doch die Unabhängigkeit muss warten: Frauen könnten sich erst nach der Hochzeit selbständig machen – ein geeigneter Kandidat sei noch nicht in Sicht.
Eine wichtige Einnahmequelle für die Frauen von Beisuzha ist die Gummifabrik des Dorfes – nur ein Viertel der Beschäftigten sind Männer. Der Fabrikleiter operiert in der wirtschaftlichen Grauzone, die in China allgegenwärtig ist. Die Fabrik hat er vom Staat gepachtet, denn reiner Privatbesitz auf Gemeinschaftsland ist nach wie vor nicht erlaubt. Seine Tochter, gekleidet in Pelzstola und hochhackige Cowboystiefel, führt durch die Anlage. In ohrenbetäubendem Lärm stanzen die Arbeiterinnen handtellergroße Kreise aus den meterlangen Gummistücken, die ihre männlichen Kollegen im Staub der hintersten Halle herstellen. Bestimmt sind die Gummiräder für den Verkauf in Kasachstan, bezahlt wird nach der Anzahl der produzierten Stücke. Wer krank wird, hat Pech gehabt. Nach zwei Tagen wird die Stelle neu besetzt, Anwärterinnen gibt es genug, erklären die Arbeiterinnen übereinstimmend.

„Ich freue mich trotzdem, auch wenn es ein Mädchen ist“, sagt Guo Xiu Yun, die ihre zweite Tochter in den Armen hält. Das Baby ist gerade vier Wochen alt. Spätestens in einem Monat muss sich die Mutter sterilisieren lassen. Die Operationsbestätigung geht an die Frauenbeauftragte von Beisuzha, die als einziges weibliches Mitglied des Dorfkomitees für die Familienplanung im Dorf zuständig ist. Wer eine Tochter hat, darf noch ein zweites Kind bekommen. Das erweiterte Modell der Ein-Kind-Politik bietet Frauen eine zweite Chance, einen Sohn auf die Welt zu bringen und damit die eigene Versorgung im Alter zu sichern: Söhne bleiben auch nach der Hochzeit bei ihren Eltern, während Töchter zu den Schwiegereltern ziehen.
Lokalaugenschein in der Qi Ming Schule: ein neues Gebäude, das die DorfbewohnerInnen selbst finanziert und gebaut haben. Eine Mauer am Eingang trägt die Namen der SpenderInnen und MitarbeiterInnen. China öffnet sich nach innen und nach außen, das spürt man hier vor allem im Sprachunterricht. Englisch gilt als eines der wichtigsten Fächer und steht täglich am Stundenplan. Seit einigen Jahren halten die LehrerInnen den Unterricht in Pudonghua ab, also auf Hochchinesisch – eine wesentliche Grundlage für ein Leben außerhalb der Dorfgrenzen.
Noch ist das Schulsystem der Landwirtschaft angepasst: Während der Maisernte ist schulfrei. Doch auch die Kinder wissen, dass ihre Zukunft nicht in der Landwirtschaft liegen wird. „Wenn ich groß bin, will ich Chef werden“, sagt der zehnjährige Hongwei. Damit begibt er sich auf den Weg Richtung Wirtschaftsmacht, den ganz China zu beschreiten scheint. Offen ist, ob und wie lange noch Beisuzha und ähnliche Dörfer in China Lebensmittelpunkt für die zukünftigen Chefs des Landes bleiben werden.

Beisuzha ist die erste Fallstudie im Rahmen des EU-Forschungsprojektes „SUCCESS“ (ICA 4-CT-2002-10007). Projektleiterin ist die Österreicherin Heidi Dumreicher, 18 internationale Institutionen sind daran beteiligt.

http://oikodrom.com

Die Autorin Ina Ivanceanu ist im Rahmen des Projekts für den Forschungsschwerpunkt „Partizipativer Film“ verantwortlich. Informationen unter http://oikodrom.com.

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