In Bhutan laufen die Uhren anders: Im nationalen Entwicklungskonzept spielt das psychische Wohlergehen der Menschen eine vorrangige Rolle. Doch auf Grund der Besonderheiten des Landes wäre dieser „Glücks-Index“ auf andere Länder kaum übertragbar, meint Christian Wlaschütz.
Auf den ersten Blick scheint das Konzept der „Gross National Happiness“ (GNH) eine wohltuende Alternative zum Bruttonationalprodukt, dem herkömmlichen Maßstab für Entwicklung, zu sein. Mit dieser rein am ökonomischen Wachstum orientierten Kennzahl lassen sich ja viele Einschnitte in den sozialen und ökologischen Bereich rechtfertigen. Aber erfüllt der abstrakte Begriff „Glück“ die Erwartungen; lässt sich dieses ungewöhnliche, aber doch attraktiv klingende Konzept gar auf andere Erdteile und Regionen übertragen?
Beim GNH geht es darum, einen Mittelweg zwischen einer Verweigerung und der bedingungslosen Hörigkeit gegenüber dem Fortschritt zu finden. Immer wieder wird als Negativbeispiel Nepal genannt, ein Land, das sich aus wirtschaftlichen Überlegungen dem Tourismus vollständig geöffnet und inzwischen kulturell, sozial und vor allem auch ökologisch schwer darunter zu leiden hat.
Bhutan, das seit 1907 eine Monarchie ist, geht seit einigen Jahren explizit einen anderen Weg. Das Königshaus Wangchuk versucht, das Entwicklungsniveau unter Berücksichtigung spezifisch bhutanesischer Werte langsam zu heben. Eine große Rolle spielt dabei die Religion; Bhutan ist weltweit das einzige Land, das den Buddhismus als Staatsreligion führt. Weitere wichtige Komponenten sind die Wahrung der Traditionen, also etwa die Bedeutung der Familie als sozialer Einheit, der Schutz der Umwelt vor Ausbeutung und die Schaffung einer neuen, nationalen Identität. Letzteres wird etwa durch die Betonung der eigenen Sprache Dzongha sowie durch das Tragen der Nationaltracht gefördert. Eine Folge ist die relative Selbstabschließung des Landes nach außen. Pro Jahr dürfen beispielsweise nur an die 6.000 TouristInnen einreisen, um das soziale und ökologische Gefüge nicht allzusehr zu belasten.
Wäre ein solcher Ansatz nicht auch für andere Länder wünschenswert? Die folgenden Gedanken haben nicht das Ziel, das GNH an sich zu bewerten – dazu bedarf es wohl eines längeren Aufenthalts samt direkteren Kontakten zu den Menschen. Rein konzeptuell stellen sich aber einige Fragen.
Inwieweit stellt das GNH überhaupt etwas wirklich Neues dar? Sieht man vom kreativen Begriff ab, so gab es immer wieder Entwicklungskonzepte und -strategien, die neben ökonomischen auch soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt haben. Hier ist etwa der seit 1990 durch jährliche Berichte bekannte Ansatz der Menschlichen Entwicklung (Human Development) zu nennen, der vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP als Ergänzung zur rein ökonomisch definierten Entwicklung der Weltbank propagiert wird. Das GNH ist somit für mich nicht wegen der Neuheit interessant, sondern wegen des Versuchs, ein alternatives Programm konkret auf ein bestimmtes Land anzuwenden.
Als in den 1950er und 1960er Jahren innerhalb der Entwicklungstheorie der bis heute hochrelevante Zweig der Modernisierungstheorien aufkam, die im Prinzip den „Westen“ als Vorbild für andere Länder betrachten, gab es wiederholt starke Gegenstimmen, die davor warnten, einen einzigen Entwicklungsweg zu verallgemeinern – zu Recht, wie sich wohl deutlich herausgestellt hat.
Das Gleiche gilt auch für das GNH. Bestimmte Aspekte, etwa die in Bhutan praktizierte Form des Buddhismus, sind so spezifisch, dass sie auf andere Regionen sicherlich nicht 1:1 anzuwenden sind. Bhutans historische Entwicklung begünstigt außerdem die Förderung eines „nationalen Programms“. Vor Einrichtung der Monarchie bestanden im Land mehrere religiöse und politische Machtzentren. Religion und Politik waren und sind in Bhutan bis heute kaum zu trennen. Zur Aufrechterhaltung der staatlichen Einheit scheint es demnach nötig, sich durch ein klares Staatsziel von außen zu unterscheiden. Die Förderung von Gemeinsamkeiten, etwa durch die Nationalsprache oder auch das GNH, ist eine notwendige Grundlage für das Überleben des Königshauses.
Eine langsame, kontrollierte Einführung moderner Errungenschaften wie Fernsehen oder Internet machen eine autoritäre Staatsführung nötig. Das politische System ist gekennzeichnet durch eine klare Dominanz des Königs. Kaum ein wesentlicher Posten ist ohne Einverständnis des Königs besetzbar, kaum eine Entscheidung ohne ihn zu treffen. Die Zulassung des Fernsehens vor einigen Jahren führt offenbar noch immer zu heftigen Diskussionen, ob man die Bevölkerung nicht überfordert hätte. Nun ist es keine Frage, dass dieses Medium folgenschwere Veränderungen einleiten kann. Aber: Wer kann denn legitimerweise für andere Menschen feststellen, wann und wie das Fernsehen zu konsumieren sei? Wie lässt sich die berechtigte Sorge vor schädlichen Folgen mit Eigenverantwortung kombinieren?
Zuletzt muss gesagt werden, dass die Durchsetzung des GNH in Bhutan dadurch begünstigt wird, dass der kleine Himalaya-Staat offenbar für regionale und globale Großmächte zu „unbedeutend“ ist, als dass der ernsthafte Versuch unternommen würde, das Konzept wirkungsvoll von außen zu torpedieren. Man stelle sich nur vor, welche Folgen der Fund von wertvollen Rohstoffen für das Land haben könnte …
Im Rahmen des von der Kontaktstelle für Weltreligionen, einer Einrichtung der Österreichischen Bischofskonferenz, veranstalteten Lehrgangs „Weltreligionen“ bereiste eine Gruppe von etwa 25 Personen Bhutan und nahm in der Hauptstadt Thimpu an einem internationalen Seminar über das Konzept „Gross National Happiness“ teil. Christian Wlaschütz war dabei.