Frauen mit verschleierten Gesichtern: ein eher unerwarteter Anblick in einem Hindudorf. Aber hier in Mangali, wie auch in anderen Dörfern im Bundesstaat Haryana, nordwestlich von Delhi, wird an der Tradition der Purda noch festgehalten. Das heißt: verheiratete Frauen bedecken ihr Gesicht mit ihrem Schal, wenn sie sich daheim im Kreis älterer Frauen, bei der Feldarbeit oder unterwegs im Dorf befinden. So wollen es die Männer. Im Gespräch mit jüngeren Frauen höre ich heraus, dass sie eigentlich nicht mehr bereit sind, diese Tradition aufrecht zu erhalten. Noch bemerkenswerter scheint mir die Aussage älterer Frauen, die ich nach ihren sehnlichsten Wünsche frage und die, wie aus einem Mund, wenn auch etwas verlegen kichernd, die Abschaffung der Purda in den Vordergrund stellen.
Natürlich hat sich viel in den letzen Jahren in Indien verändert, aber eigentlich hatte ich mir mehr erwartet. Die enorme Kluft zwischen Stadt und Land scheint sich nicht zu schließen. Die Fahrt von Delhi nach Hisar, wo ich an einer internationalen Konferenz teilnehmen soll, eine Distanz von etwa 150 Kilometern, dauert immer noch über vier Stunden. Die Hauptstraßen sind gut ausgebaut, aber der Verkehr nach wie vor chaotisch. Da wird rechts oder links überholt, da wird durch die Dörfer gesaust, auch wenn es auf den Straßen von Menschenmassen, Tieren, Fahrrädern, Rikschas nur so wimmelt. Auf heilige Kühe, so scheint es, wird immer noch mehr Bedacht genommen als auf Menschen. Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber ich bin froh, wenn solche Fahrten gut vorbei sind!
Ein typisches Bild vom Dorfalltag hat sich mir bei dieser Autofahrt besonders eingeprägt. Die eine Straßenseite dicht besiedelt. Lehmhütten, von Häusern kann keine Rede sein, Dächer aus Palmenblättern oder, wenn es gut geht, aus Blech. Männer hocken auf der Straße, Frauen kochen, Kinder spielen. Da gibt es weder Wasser noch Strom – auch wenn der Staat Haryana stolz darauf verweist, dass er der erste war, der zumindest Straßenbeleuchtung eingeführt hat – geschweige denn hygienische Einrichtungen. Alles wie gehabt, mir fallen kaum Veränderungen, Verbesserungen auf.
Ein Blick auf die gegenüber liegende Straßenseite lohnt sich. Ein Verkaufsstand neben dem anderen. Reis, Gewürze, Fladenbrot, Stoffe, Blumen werden hier angeboten. Aber für mich bemerkenswert, ja eigentlich erschütternd ist ein Stand – wie gesagt genau gegenüber den „Pavement Dwellers“ – der Kristallluster anbietet. Groß, kitschig, mit vielen klirrenden Ornamenten versehen, werden sie hier zur Schau gestellt und sichtlich auch gekauft.
Die Feminisierung der Armut lässt nicht nach. Frauen berichten mir von dem weiterhin bestehenden Frauenhandel, der vor allem in den an Nepal angrenzenden Staaten blüht. „Die Mädchen sollen möglichst ungebildet bleiben“, sagt man mir. Und der Verkauf der Mädchen an vor allem alte Männer werde akzeptiert als eine der wenigen Geldquellen für arme Familien, von denen etwa 23% unter der Armutsgrenze leben. Etwa 5.000 Rupien, umgerechnet 88 Euro, werden für ein Mädchen geboten. Auch wenn die Polizei versucht, diesen Handel zu unterbinden, ist mir klar, dass sich die Situation nur bei einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen ändern wird.
Die Konferenz in Hisar, die sich mit dem Thema „Globalization and Women’s Work in South Asia and the EU“ befasste, wurde hauptsächlich von jungen indischen Akademikerinnen besucht. Viele von ihnen haben im Ausland studiert, die meisten verfolgen eine akademische Laufbahn, waren bereits an verschiedenen indischen Universitäten tätig. Aufgeschlossen, intelligent, vergnügliche Gesprächspartnerinnen. Einige von ihnen waren bereits verheiratet, und so konnte ich mich auch mit vielen von ihnen über Ehe und Familie im heutigen Indien unterhalten. Keine einzige dieser jungen Akademikerinnen hat sich ihren Ehemann selbst ausgesucht. Ihr Lebensmuster ist fix vorprogrammiert. Studieren, Studienabschluss spätestens mit 25 Jahren, dann Heirat, dann Einstieg in den Beruf. Für Frauen über 25 Jahren lässt sich ein passender Ehemann nicht mehr ganz leicht finden. Da müssen Mütter und Großmütter schon sehr umsichtig sein und ihre Töchter bzw. Enkelinnen hoch anpreisen.
Und wie stehen die jungen Frauen dazu? „Ich war sechs Monate mit meinem jetzigen Mann verlobt“, erzählt die eine. „Bis zu meiner Verlobung kannte ich ihn nicht, er war mir auch nicht auf Anhieb besonders sympathisch. Aber jetzt habe ich mich schon an ihn gewöhnt.“ Und eine andere meint: „Aber was macht ein hässliches Mädchen bei Euch, für das die sich doch sicher kein Mann interessieren wird? Bei uns hätte sie damit kein Problem: Mutter oder Großmutter würden schon einen passenden Mann für sie finden.“
Hoffnungsfroh hat mich am Ende der Konferenz nicht nur die „Self Employed Women’s Association“ (SEWA), gestimmt, die mit ihren Programmen Frauen dazu befähigt, selbständig und in ihren Kleinbetrieben wettbewerbsfähig zu werden, sondern auch, dass die indischen Frauen betonen, dass sie sich mit Frauen weltweit vernetzen wollen, denn – so meinten sie – „wenn wir uns immer wieder treffen, so wie diesmal, dann könnte die Welt eine glücklichere Welt für uns alle werden.“