Die afro-brasilianische Religion Candomblé sieht zwischen Politik und Spiritualität keinen Widerspruch. Der Candomblé-Priester (Babalorixá) Pai Anderson de Oxalá spricht mit Birgit Fritz über Freiheit, Widerstand und die Verantwortung des Individuums.
Südwind: Candomblé hat auch in Europa AnhängerInnen. Wie kommt es dazu?
Pai Anderson: Die afrikanische Religion, die in Brasilien neue Wurzeln entwickelte und auch auf die dortigen indigenen Kulturen traf, ist nicht auf den afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent beschränkt. Orixá hat seinen Ursprung in der göttlichen Energie, in der Weisheit und der Kraft des Heiligen hier auf der Erde. Die Manifestation der Naturkräfte in Wind, Wasser, Fels und Feuer, der sich in Bewegung befindenden universellen Kraft, lädt die Adepten des Orixá-Kults auf eine Forschungsreise ein, sich selbst in dieser Natur wieder zu erkennen und sich in Harmonie dazu zu entwickeln, um ihre eigene Realität und Existenz besser zu verstehen.
In den Sklavenhütten von Brasilien wurde die Kultur der verschleppten Afrikaner und Afrikanerinnen noch einmal geboren. Dort hat der Candomblé seinen Ursprung. Orixá stellt eine universelle Energie dar und überall, wo es Leben gibt, werden Menschen aller Kulturen davon angesprochen. Dies ist ein außergewöhnliches Erbe der Menschheit, das auch in Europa auf große Resonanz trifft.
Wie definieren Sie die Orixás?
Jeder Orixá hat seine eigene Energie und jeder Mensch hat in seinem Kopf einen Orixá, z.B. Jemanja. Der Weg der Orixás ist eine Suche nach dem Verstehen des eigenen Inneren. Oxalá hat die Energie der Luft, des Lebenshauchs, der in jedem Menschen zu Hause ist. Wenn wir in Bahia beten, dann beten wir immer zu Oxalá, der die Mission hatte, den Menschen zu erschaffen, und zu Olorun, der uns den Lebensatem gegeben hat. Der Orixá ist wie eine Sonne. Sie scheint und ihre Strahlen werden unterschiedlich sein, aber sie haben alle dieselbe Funktion, die Menschen zu erleuchten. Der Wind, der eintritt und der Wind, der austritt, der Orixá, der mit einer Freiheit in eine Person eingeht und der wieder abgeht, diese Einheit zwischen Mensch und Orixá wird von Oxalá repräsentiert. Dass der Mensch in Einheit mit seinem Heiligsten sein kann, das bedeutet Orixá für uns in Brasilien.
Wie sehen Sie die derzeitigen globalen politischen Entwicklungen?
Politik und Spiritualität sind nicht getrennt voneinander. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass die Welt ein Gleichgewicht erfährt, das wir wieder herstellen sollten. In Brasilien erleben wir einen Moment der Demokratie, eine Chance für religiöse Gleichstellung, in der die Menschen frei sind, ihrem Glauben und ihren Überzeugungen nachzugehen, was sich auch auf die Art der gesellschaftlichen Partizipation auswirkt. Es ist jedoch wichtig zu begreifen, dass Gesetze allein nicht genügen. Es braucht dazu auch Menschen, die sie respektieren. In Brasilien bin ich Teil einer Bewegung von religiösen Menschen, die sehr bewusst ihren Raum in der Gesellschaft einnehmen. Als spiritueller Mensch verstehe ich auch, dass ich eine Rolle in meiner Gemeinschaft spiele. Die Terreiros, die Candomblé-Tempel, waren immer schon Orte des Widerstands, Orte der Freiheit, Orte sozialer Inklusion. Als religiöser Mensch habe ich eine Verantwortung, ein politisches Bewusstsein zu haben. Dabei ist unsere Prämisse, keine Politik von oben herab zu forcieren, sondern eine egalitäre Politik, die allen Menschen gleiche Rechte zusteht.
Die Globalisierung wirft für mich viele Fragen auf. Jeder Moment der Veränderung birgt immer auch viele Möglichkeiten in sich. Unser Ziel in Brasilien ist es, dem Rassismus, der Intoleranz und der Respektlosigkeit entgegen zu wirken und die Anerkennung der afro-stämmigen Religionen in der Welt zu fördern. Anerkennung der Religionen bedeutet jedoch nicht, dass sie Religionen der Macht werden sollen, denn jede Kultur, jedes Volk hat seine eigene Realität. Der Moment der Freiheit, in dem ich jetzt hier in Österreich über den Candomblé sprechen kann, bedeutet mir sehr viel.
Pai Anderson wurde in eine Familie mit afrikanischen Vorfahren in der Stadt Jequié geboren, auch bekannt als die Stadt der Sonne, im Bundesstaat Bahia. Er ist bei seiner Großmutter mütterlicherseits aufgewachsen. Sie ist indigener und afrikanischer Abstammung; durch sie bekam er das erste Mal Kontakt zum Orixá-Kult.
Der Babalorixá ist Leiter der Institution „Nucleo de Africanidade“ in der Stadt Lauro de Freitas, die das Ziel hat, das Bewusstsein für die afrikanischen Traditionen zu wahren und wieder zu beleben.
Seinen Beitrag zu mehr Respekt den afrikanischen Traditionen und Religionen gegenüber bringt er in seiner Arbeit innerhalb der Organisation „Coletivo de Entidade Negra da Bahia“ ein. Er kämpft auch auf der legislativen Ebene für die Gleichbehandlung und Anerkennung aller Religionen in Brasilien.
B.F.
Wie sehen Sie den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, dem Einzelnen und der Gesellschaft?
Das ist eine wichtige Frage. Wenn wir persönliche Eroberungen machen, dann müssen wir IndividualistInnen sein und wenn wir in einer Gesellschaft leben, die dies als logisch und vernünftig ansieht, ist es schwer, von dieser Idee abzugehen. Aber ich glaube, dass eine gerechtere Gesellschaft vom Kollektivismus ausgeht, von einer Einheit, in der alle Menschen Teil desselben Prozesses sind. Es ist eine Frage der Nachhaltigkeit. Man muss sich fragen, was glücklicher macht: individuelles Wachstum oder die Idee der Einheit, der Zustand des Friedens und der Harmonie mit sich selbst. In Europa finde ich viele Menschen, die sich auf der Suche nach ihren individuellen Zielen verlieren. Die Suche jedoch sollte etwas viel Größeres sein, eine Suche nach Glück im Kollektiv, als Teil einer Gemeinschaft.
Dies gilt auch für die Fragen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen. Es kann nicht sein, dass Menschen aus anderen Teilen der Welt innerhalb unseres Landes an unserer Seite leben, mit ihren Problemen und Schwierigkeiten, und dann am Individualismus zerbrechen. Wir müssen ihn überschreiten und verstehen, dass alle Wege zu Gott führen, egal ob über Olorun oder Zambi oder Allah oder Jahwe, Obatalá oder Orunmila, und dass alle Menschen den Traum des Friedens gemeinsam träumen. Und Friede kann nur in einer gerechten, egalitären und respektvollen Gesellschaft existieren, wo man einander zuhört. Das ist für mich Kollektivismus.
Wir müssen geduldig und heiter weitersuchen und warten, dass uns eine spirituelle Vernunft den Kopf erhellt, das ist der Anfang auf dem Weg zum Frieden. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, die Traditionen zu respektieren, das Alte und das Älteste, das was zuerst da war. Wir müssen verstehen, dass die Kultur die Identität eines Volkes darstellt.
Welches Anliegen haben Sie bei Ihrem Besuch in Österreich?
Mir ist es ein Anliegen, dass die Veröffentlichung dieses Interviews zur Verständigung der Kulturen beitragen kann und dass der Candomblé so verstanden und respektiert wird, wie er ist, in seiner Ganzheit. Ich wünsche mir ein größeres Verständnis der verschiedenen Arten der Religiosität, nicht der Religion, aber der Religiosität, damit die Menschen in Österreich auch in Freiheit über die Orixás sprechen können. Der Candomblé allein wird nicht die Welt heilen, die Menschen werden gemeinsam wachsen.
Was sagen Sie zum schlechten Ruf der afrikanischen Religionen allgemein in der westlichen Welt?
Viele Dinge, die über die afrikanischen Religionen erzählt wurden, wurden dämonisiert, weil diese Traditionen, bevor sie zur Religion wurden, Instrumente der Befreiung waren. Als sich Brasilien von der Diktatur zur Demokratie wandelte, war es innerhalb der Terreiros, wo die Menschen Unterstützung fanden.
Die Religion des Candomblé hat immer Liebe praktiziert. Es ist logisch, da wir von Afrika abstammen, dass wir Dinge praktizieren, die sehr natürlich sind. Wir kennen das Wasser, das Feuer, die Erde, wir wissen um die Natur und um das, was heilig ist. Unsere Kultur ist sehr einfach und das was einfach ist, ist für uns groß. Mir gefällt es sehr, dass Sie danach gefragt haben.
Die Geschichte der Religionen war immer eine der Macht, eine traurige und grausame Geschichte. Besonders die katholische Kirche war in Lateinamerika wohl eine Religion der Menschen, aber sie stand nicht im Dienste von Gott, sie verlor sich zwischen den Menschen und dem Streben nach Macht. Im Candomblé glauben wir daran, dass jeder Mensch seinen Ursprung im Guten wie im Bösen hat, es liegt an uns, uns für einen Weg zu entscheiden. Es gibt keine Hexen, es gibt unverstandene Frauen, die den Mächtigen unbequem sind; es gibt auch keine Dämonen im Candomblé, aber viele verschiedene Energien. Wir suchen keinen entfernten Gott, sondern glauben daran, dass Gott in jeder Person ist und durch alle Dinge repräsentiert wird.
Ich bete für die Gleichberechtigung der Frauen, die Gleichberechtigung der Völker, der Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und für ein Leben in Freiheit und Respekt, ohne Hunger und Krieg. Ich danke im Namen Oloruns.
Birgit Fritz ist Mitbegründerin des „Theaters der Unterdrückten“ in Wien (www.tdu-wien.at) und Lektorin für transkulturelle Theaterarbeit am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien.
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