In Ägypten hat ein Wahlmarathon von anderthalb Jahren Dauer begonnen. Das Land scheint ruhig, doch viele BewohnerInnen sind aufgewühlt. Sie wünschen eine Demokratisierung und einen Wechsel an der Spitze.
In Ägypten wird gewählt. Den Auftakt bildete am 1. Juni die Wahl des Oberhauses, der „Schura“. Die Wahlen der Nationalversammlung und des Präsidenten sollen später folgen. Nur wenige Personen werden zu den Abstimmungen gehen – das ist so üblich in Ägypten. Die Mehrheit seiner 83 Millionen EinwohnerInnen hält Wahlen für unfair und unfrei. Dazu braucht man noch einen besonderen Ausweis. Um den zu bekommen, muss man lange anstehen, und wer will das schon, wenn er weiß, dass – egal, für wen er sich entscheidet – die regierende nationaldemokratische Partei (NDP) siegen wird? So ist die Wahlbeteiligung am Nil eine der niedrigsten der Welt. Offiziell beträgt sie durchschnittlich 25 Prozent, und manche ÄgypterInnen behaupten, sogar diese Zahl sei gefälscht. Wer zur Abstimmung geht, stellt fest, dass in den Wahllokalen vor allem ArbeiterInnen aus Fabriken und BeamtInnen aus Ministerien stehen. Böse Zungen behaupten, sie würden in Bussen dorthin gefahren und entweder mit der Drohung einer Entlassung oder mit einer Belohnung dazu gebracht, ihre Stimme abzugeben.
Ägypten gibt sich als Republik, und so finden regelmäßig Wahlen statt. Trotzdem ist vieles seit Jahren gleich geblieben. Der jetzige Präsident, Hosni Mubarak, ist seit fast 29 Jahren im Amt. Die Regierung und das Parlament werden von der NDP dominiert, deren Vorsitz ebenfalls Mubarak inne hat. „Viele Ägypterinnen und Ägypter können sich nicht vorstellen, keine NDP-Mitglieder an der politischen Spitze zu sehen“, sagt der Politologe Hassan Nafaa. Manche treten deshalb in „die Partei“, wie die NDP auf Arabisch genannt wird, ein. Sie beherrscht auch das wirtschaftliche und kulturelle Leben Ägyptens. Wer NDP-Mitglied ist, hat viele finanzielle Vorteile und macht leichter Karriere als Oppositionelle.
Die große Masse schweigt jedoch. Ausgesprochen gegen die Regierung ist nur eine Minderheit. Sie rekrutiert sich allerdings aus allen Schichten und Altersgruppen Ägyptens und will das ihrer Meinung nach völlig verkrustete, politische System aufbrechen.
Anläufe, Ägypten politisch zu verändern, sind bisher gescheitert. Das liegt vor allem an der Macht der Polizei. „Früher hatten wir 1,5 Millionen Soldaten und 400.000 Sicherheitskräfte“, sagt Abdelhalim Qandil, Chefredakteur der Oppositionszeitung „Saut el-Umma“. Heute sei das Verhältnis umgekehrt. Der letzte Krieg sei 1973 gegen Israel geführt worden und seither herrsche außenpolitisch Frieden, meint Qandil. Doch in den Augen der Regierung sei parallel zum Abbau des Militärs eine Aufstockung der Polizei nötig, um inländische Feinde, also IslamistInnen, ExtremistInnen und mögliche TerroristInnen zu bekämpfen. Mit Sicherheitskräften und dem seit Jahrzehnten herrschenden Ausnahmezustand gelänge es der Regierung leicht, jegliche echte politische Gegnerschaft im Keim zu ersticken.
Der jüngste Versuch, Ägyptens politisches System zu ändern, nennt sich „National Front for Change“. Im Februar startete ihn Mohammed el-Baradei, nachdem ihn AnhängerInnen und AktivistInnen am Kairoer Flughafen empfangen hatten. Bis zu seiner Pensionierung 2009 hatte er die internationale Atombehörde in Wien geleitet. Baradeis Fans standen mit Banderolen, Schildern und Plakaten am Flughafen, schrien, lachten, weinten und jammerten. Vor allem aber brachten sie ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass der integre Baradei ägyptischer Präsident werde.
Nach Baradeis Ankunft in Kairo hagelte es öffentliche Kommentare und Analysen. Ägyptens Regierungssprecher und staatliche Medien stellten sich klar gegen Baradei. Wie aus einem Munde erklärten sie, er habe zu lange im Ausland gelebt, um das Land am Nil zu verstehen und führen zu können. Auch die Opposition bäumte sich gegen den neuen, erfolgreichen Hoffnungsträger auf. Vorsitzende von Oppositionsparteien, die sich weder durch demokratisches Verhalten noch Aktivität oder Ideen ausgezeichnet hatten, erklärten zynisch, sie seien nicht bereit, einem, der gerade erst heimgekommen sei, ihre Unterstützung zu gewähren. Das verwunderte umso mehr, als Ägyptens Oppositionsparteien ein Schattendasein führen und überhaupt erst durch Baradei ins Rampenlicht gerieten. Konkurrenten Mubaraks waren zuvor flugs ausgeschaltet worden. So wurde Aiman Nur, Mubaraks Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen von 2005 und Vorsitzender der Ghad-Partei, nach der Abstimmung unter einer fadenscheinigen Begründung ins Gefängnis gesteckt. Dabei hatte Nur gerade einmal 7 Prozent der Stimmen erhalten, was die NDP offenbar als zu viel empfand.
Vernünftigerweise müssten die Oppositionsparteien Baradei also unterstützen. Ist es Neid, der sie daran hindert? Der ist überflüssig, denn Baradei erklärte bis jetzt nicht, für die Präsidentschaftswahlen kandidieren zu wollen. Vielmehr macht er sich für die Demokratisierung Ägyptens stark. Beispielsweise wünscht er sich freie und faire Wahlen. Momentan können sich Unabhängige kaum für das Präsidentenamt aufstellen lassen. Da Baradei keiner Partei angehört, wird er deshalb wohl auf die Teilnahme an der Wahl verzichten. Die Gesetzgebung von 2005 war zwar als Wahlreform propagiert worden, schien tatsächlich jedoch einen friedlichen Wechsel des Staatspräsidenten und der Regierungspartei auszuschließen. Geschickt wurde durch sie Mubaraks politisch aktiver Sohn Gamal gestärkt und zum einzig möglichen Präsidentschaftskandidaten gemacht. Baradeis AnhängerInnen fragen sich, ob die Oppositionsparteien die „Erbrepublik“ nach außen hin zwar laut ablehnten, sie im Grunde aber einem Erfolg Baradeis vorzögen.
Ägyptische AktivistInnen spürten bereits vor Jahren, dass ihre in die Oppositionsparteien gesetzten Erwartungen enttäuscht würden. Tatsächlich hielten diese sich abseits von Protesten und ihre Kader schienen ohnmächtig. Die bekanntesten Oppositionsparteien sind die des Wafd, der linken Sammlung und der Nasseristen. Auch die Muslimbruderschaft – obwohl sie keine zugelassene Partei ist – zählt zur Opposition. Bei weiten Teilen der ägyptischen Bevölkerung ist sie beliebt, da sie den Islam propagiert und als unbestechlich gilt. Es gelang ihr, bei den letzten Wahlen der Nationalversammlung 2005 trotz Wahlbetrugs 20 Prozent der Sitze zu erringen. Doch gibt es auch ÄgypterInnen, denen die Frömmigkeit der Muslimbrüder ein Dorn im Auge ist. Sie fürchten, unter ihrer Führung würde Ägypten zu einem islamischen Staat nach dem Vorbild Irans. Zu ihrer Kritik kommt, dass die Muslimbruderschaft Baradei nicht ernsthaft unterstützt.
In der „National Front for Change“ sammeln sich Menschen, die meinen, Ägypten könne sich friedlich verändern. Unter der Vorherrschaft der NDP halten sie das jedoch für unmöglich. Tatsächlich hinkt Ägypten, glaubt man offiziellen Zahlen, den meisten Ländern hinterher. Auf der Rangliste der menschlichen Entwicklung liegt es auf Platz 123 von 182, und 20 Prozent seiner BewohnerInnen leben in Armut. Hauptgründe dafür sind die verbreitete Arbeitslosigkeit und die geringen Löhne. Sie liegen durchschnittlich bei 100 bis 200 Euro im Monat. Auch wenn in Ägypten viele Grundbedürfnisse günstig befriedigt werden können, ist es für die große Mehrheit der Bevölkerung unmöglich, zu sparen oder eine größere Anschaffung zu machen. Durch Misswirtschaft sind die Lebensmittelpreise seit 2008 rasant gestiegen.
Es besteht die Gefahr, dass die Unzufriedenheit der ÄgypterInnen rasch wachsen wird und ihre viel beschworene Duldsamkeit in Aufruhr umschlagen könnte. Sie haben mehrmals bewiesen, dass sie sich wehren können. Beispielsweise gingen BürgerInnen im Jänner 1952 aus Protest gegen die britische Vorherrschaft auf die Straße und brannten Kairo nieder. Die gesamte Ordnung brach zusammen. 25 Jahre später brach abermals ein großer Aufstand aus. Ausgelöst hatte sie der damalige Präsident Sadat, als er die Subventionen für Brot streichen wollte. Das betraf die Ärmsten der Armen. Er nahm seinen Beschluss zurück, und bis heute stehen am frühen Morgen unzählige Menschen bei den staatlichen Bäckereien an, wo ein Brotfladen nur 0,0065 Euro kostet. Im Arbeitermilieu müssen Ehefrauen und Kinder mitarbeiten, damit die Familien über die Runden kommen. Kurz, den Ägypterinnen und Ägyptern geht es schlecht. Es stellt sich weniger die Frage, wie im Nilland Extremismus oder Terrorismus bekämpft werden können, sondern Armut und Niedriglöhne.
Kristina Bergmann lebt in Kairo und ist Korrespondentin der NZZ.
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