Die Hip Hop-Kultur hat eine rasante Entwicklung durchgemacht: Heute reimen Musikerinnen à la M.I.A. und Rapper wie Mos Def über die irrsten Sounds und jonglieren mit verschiedensten Stilen.
Die vorwiegend jungen Damen und Herren, die abends das Wiener Gürtellokal B72 wegen des Hip Hop-Konzertes besuchen, hängen an jedem Wort, das der MC rappt. Er klammert sich mit der linken Hand regelrecht an das Mikrofon, so, als dürfte er es nie wieder loslassen. Sein Mund verschwindet hinter dem Gerät und seinen Fingern. Umso lauter tönt die Stimme aus den Boxen. Die rechte Hand gibt den Takt vor, sein Zeigefinger schwingt im Rhythmus wie der Taktstock eines Dirigenten. Unten im Publikum gehen alle mit, nicken oder bewegen ausgestreckte Hände. Das Rappen ist die Königsdisziplin von Hip Hop. Jeder Kleinwüchsige mit Schildmütze und breiten Hosen träumt davon, einmal auf der Bühne zu stehen und Reime zu „droppen“, die das Publikum verzücken, erstaunen oder gar erschrecken.
Hip Hop bedient sich eigener Begriffe (siehe Glossar). Die Kultur ist lebendig wie eh und je. Und öfters anzutreffen als man denkt: Es muss nicht immer gleich die Freestyle-Session der lokalen MCs sein: In Fußgängerzonen tanzende B-Girls und B-Boys, an die Wand gesprayte Kunst oder gestylte Jugendliche mit Kapuzenpullis und breiten Hosen – das alles gehört dazu.
Und die Grenzen verschwimmen zunehmend. Hip Hop ist heute mehr als die viel zitierten vier „Elemente“ DJing, MCing, Breakdancing und Graffiti: So zählen sich mittlerweile viele (Skate- oder Snow-)Boarder und Boarderinnen sowie BMX-begeisterte Stadtbikefahrer zur Szene. Und die Musik existiert in den verschiedensten Formen und Farben. Die klassische Version besteht aus Soul- und Funkelementen, die vom Diskjockey am Plattenspieler wiederaufbereitet, also „gesampelt“ werden. Dazu ganz wichtig: Ein verlässlich-regelmäßiger Beat, über den die SprachkünstlerInnen ihre Lyrik legen können. Immer schon verwandt war Rapmusik mit Reggae. Aber sie zeigt sich überdies anderen Richtungen offen und wandelbar. Hip Hopper wollen immer „fresh“ und „cool“ sein, also frisch und unverbraucht. Stehen bleiben bedeutet gestern.
Es begann auf Tanzpartys in US-Städten der 1970er Jahre, die Schwarze und lateinamerikanische EinwandererInnen feierten: Diskjockeys sorgten für passende Musik und der MC, der „Master of Ceremony“, animierte am Mikrofon zum Weitertanzen – so entstand Hip Hop. Das Rappen von selbstgereimten Versen kommt aus der Tradition westafrikanischer Kultur und ihrem speziellen Umgang mit Rhythmus und Tonsprache. Die Herkunft der Bezeichnung „Hip Hop“ lässt sich nicht mehr herleiten. Als sicher gilt, dass „Hip“ für „in“, „im Trend“, und „Hop“ für die Tanzfeste stand.
Der erste große Hit kam 1979 mit dem Song „Rapper’s Delight“ von der Sugar Hill Gang. Ab diesem Zeitpunkt setzte mehr und mehr eine Kommerzialisierung der Subkultur ein. Mitte der 1980er Jahre traten Bands mit politischen Botschaften in Erscheinung: Public Enemy an der US-Ostküste oder N.W.A. (für Niggaz with Attitude) an der Westküste prangerten das von der weißen Bevölkerung dominierte Gesellschaftssystem an. Titel wie „Fight the Power“ oder „Fuck the Police“ sprachen eine deutliche Sprache. Bereits hier zeigten sich Variationen der Kultur: Beriefen sich manche auf die Bürgerrechtsbewegung und Malcolm X, konzentrierten sich andere auf die Schilderung ihres von Drogen, Gewalt und korrupten Polizisten beherrschten Alltags in Elendsvierteln, ohne dass sie direkt politisch aktiv wurden. Letztere waren die Vorläufer der bis heute bestehenden Gangster-Rapper. Daneben formierte sich eine Richtung, die man „Conscious Hip Hop“ nennt. Darunter wird, grob gesagt, Rap mit sozialkritischen Inhalten zusammengefasst.
Ein wahrer musikalischer Schmelztiegel ist London. Die bunte Mischung der Subkulturen und dort lebenden KünstlerInnen mit ihren internationalen Wurzeln brachte Projekte hervor, die Rap wahrlich erfrischten: Zum Beispiel Roots Manuva, ein in Südlondon aufgewachsener MC mit jamaikanischen Eltern, der besonders mit seinen Sounds Grenzen zwischen Musikgenres aufbricht. Oder Mathangi Arulpragasam aka M.I.A., die seit ihrem Album „Arular“ über Großbritannien hinaus eine gefragte Rapperin, Sängerin, Songschreiberin und Produzentin ist. Ihre kritischen Texte rütteln auf. Die aus einer tamilischen Familie stammende Künstlerin thematisiert oft den Kampf von Minderheiten gegen eine dominante Übermacht und die globale Ungleichheit.
Auch in Österreich findet man moderne Mischformen: Rodney Hunter mixt als Produzent und Solokünstler ebenso verschiedenste Stile zusammen. Das Ergebnis ist immer Hip Hop, und zwar qualitativ hochwertiger. Die Mundart-Bewegung verwendet breitesten Salzburger oder burgenländischen Dialekt und pocht so auf Originalität.
Der in Wien lebende aufstrebende Musiker 3gga ist vor allem im Reggae beheimatet, rappt dazu genauso gern über Hip Hop- und R’n’B-Beats. Für ihn gehen diese Disziplinen ineinander über: „They are all one“, die sind alle eins, sagt der Nigerianer, der vor zehn Jahren über Umwege aus Benin City hierher kam. Mittlerweile ist er mit seinem Leben als Wahlwiener sehr zufrieden, inklusive seiner musikalischen Entwicklung: „Die Szene war sehr wichtig für mich und meinen Weg. Egal wo man her kommt, wenn man den gleichen Vibe hat, wird man zusammen aktiv”, sagt 3gga alias Michael Osayande.
Was haben diese verschiedenen Mutationen noch gemeinsam? „Was verbindet, ist die sampelnde Herangehensweise. In einem Moment entsteht aus verschiedenen ‚Zutaten’ etwas ganz Neues“ erklärt Mieze Medusa, österreichische Rapperin und Poetry-Slam-Instanz. Ihr letztes Album, das 2009 in Zusammenarbeit mit Tenderboy erschienene „Tauwetter“, ist von hiesiger elektronischer Musik geprägt. Die Künstlerin sieht einen gewissen Grundrhythmus als essenziell an – trotz aller Variationen lässt eben nur ein gewisses Tempo und eine bestimmte Anzahl an BPM, also Beats per Minute, Reimstrophen zu. Abseits der musikalischen Umsetzung sind für sie Authentizität und Sinn für die „Community“ auch im Jahr 2010 noch Merkmale der Hip Hop-Kultur.
GLOSSAR
DJing: Dazu gehört das Auflegen der Platten inklusive bestmöglichem (tanzbarem!) Übergang zwischen Liedern sowie das Scratchen. In Hip Hop-Gruppen sorgt der DJ oder die DJane für die instrumentale Musik, über die Rapper/MCs ihren Sprechgesang legen.
Scratchen: Vom englischen Wort für „kratzen“. Rhythmisches Hin- und Herbewegen von Schallplatten. Durch den Kontakt zur Nadel entsteht so ein markantes Scratch-Geräusch.
MCing: Der oder die MC (für „Master of Ceremonies“) ist genau genommen mehr als nur ein/e Rapper/in, der/die Zeilen reimt. MCs sollen auch das Publikum animieren, Stimmung machen und „durch das Programm führen“.
Freestyle: Improvisierte Form des Rappens, bei dem die KünstlerInnen das reimen, was ihnen ad hoc einfällt.
Poetry Slam: Öffentlicher Wettstreit im Dichten.
B-Girls/-Boys: Break-Girls bzw. -Boys sind Hip Hopper, die Breakdancen, sich also athletisch und in Kreisbewegungen zum Rhythmus der Musik bewegen.
Sample: Ein Element eines Musikstücks wird aus dem Kontext gerissen und in einem neuen Zusammenhang arrangiert; ursprünglich bediente sich Hip Hop vor allem bei Soul und Funk.
Beatboxing: Schlagzeug- und Percussiongeräusche werden mit Mund und Stimme erzeugt.
Drum ’n’ Bass: Elektronische Tanzmusik, die in den 1990ern aufkam. Charakteristisch sind Breakbeats, die den Rhythmus „brechen“. Der Stil unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch von Techno und House, bei denen die Musik gleichförmig bleibt. Techno gilt dabei als schneller und „maschineller“ als das von Funk und Soul beeinflusste House.
Dancehall: Musikrichtung, die auf Reggae aufbaut und u.a. durch den dabei praktizierten Sprechgesang auch mit Hip Hop verwandt ist.
Reggaeton: Mix aus Hip Hop, Dancehall, Merengue, und anderen lateinamerikanischen Einflüssen.
R’n’B: Kurzform von „Rhythm and Blues“. Zeitgenössischer R’n’B ist afroamerikanische (Mainstream-) Musik, die Hip Hop-Elemente mit Pop-Melodien mischt.
R.S.
Die Initialzündung zum Hip Hop, wie wir ihn heute kennen, lieferte die Black Community in den USA. Nicht nur damals waren es sozial Schwächere, die sich des Sprachrohrs Hip Hop bedienten. Der erste weiße Rapstar, Eminem, vertritt seit Ende der 1990er Jahre die perspektivlose Unterschicht, die in Wohnwagenparks Nordamerikas lebt. Viele seiner Texte drehen sich um seine zerrüttete Familie, die fehlende Vaterfigur und die drogensüchtige Mutter.
In Europa waren es oft Migranten und Migrantinnen, die der Musik ihren Stempel aufdrückten. Hip Hop-Bands sind häufig das kritische Gewissen der jüngeren Generationen. In Mexiko übernahmen diese Funktion etwa die Musiker der Gruppe Molotov, in Kuba die Orishas. Viele Nachwuchsrapperinnen und zukünftige DJs nehmen sich jedoch mittlerweile Musiker und Musikerinnen zum Vorbild, die es kommerziell zu Erfolg brachten. Besonders die, die in den USA den Durchbruch geschafft haben. Reggaeton-Stars wie der Kubanoamerikaner Pitbull oder der Puertoricaner Daddy Yankee fallen vor allem durch ihre teuer produzierten Videos und ihren darin zur Schau gestellten Reichtum auf, inklusive Limousinen, Goldketten und halbnackten Frauen als Aufputz. Die wichtigsten MusikerInnen dieser globalisierten Variante der Kultur, etwa der New Yorker Rapper, Produzent und Unternehmer Jay-Z, sind für viele ein Vorbild.
Beispiel Nigeria: „Hip Hop ist groß hier. Und die USA haben viel Einfluss auf die Rapper, die in ihren Musikvideos oft amerikanische Stars imitieren“ erklärt 3gga, der das Geschehen im Land, in dem er geboren ist, stets verfolgt. Daneben entwickelten sich in dem afrikanischen Staat allerdings lokale Hip Hop-Kulturen. Neben Pidgin Rap bestehen viele florierende regionale Szenen. Im Westen reimt man auf Yoruba, im Osten auf Igbo. Diese Modifikationen sind ebenso globale Phänomene: In Indien wandelte sich eine lateinamerikanische Form von Rap. Vor allem der 4/4-Takt und der Synthesizer-Sound von Reggaeton scheint es einigen InderInnen angetan zu haben: Aus Reggaeton wurde Bhangraton. In Japan etablierte sich eine der ersten Szenen außerhalb der USA überhaupt. Lange ging es in dem Inselstaat vor allem um Spaß bei Musik und Tanz. Aber natürlich bildete sich über kurz oder lang auch politischer Rap. Bekanntester Export ist mit DJ Krush ein Diskjockey, der viel mit westlichen Musikschaffenden zusammenarbeitet.
Mieze Medusa glaubt nicht, dass man Hip Hop pauschal in zwei Welten – oberflächliche, kommerziell erfolgreiche Musik hier und aufklärerische Alternativszene da – trennen kann. In US-Hip Hopper und Schauspieler Common sieht die gebürtige Oberösterreicherin den lebenden Beweis, wie reflektierter Rap mit einem großen Bekanntheitsgrad und Erfolg im ökonomischen Sinn einhergehen kann. Nicht zuletzt durch Werbeverträge spielt Common finanziell in einer Liga mit Megasellern wie Eminem. Trotz allem sieht die Wortakrobatin einen Wandel: „Es ist schon so, dass in den 1980er Jahren Protestkultur und eine gewisse Nachdenklichkeit in der Hip Hop-Kultur als ‚cooler’ galten als heute. Zumindest für Europa kann ich das sagen“, erklärt Mieze Medusa.
In Deutschland kamen die bekanntesten Rapper (die dominante Mehrheit waren und sind Männer) lange aus der Mittelschicht. Umso aggressiver meldeten sich vor ein paar Jahren einige zu Wort, die sich von „braven“ Gruppen wie den Fantastischen Vier oder Fettes Brot nicht verstanden fühlten. Aggressiv im wahrsten Sinne des Wortes: Rund um das Plattenlabel Aggro Berlin wurden selbsternannte „Gangster-Rapper“ zur Mode, die ihr Leben zwischen sozialer Unsicherheit und Kriminalität in Berliner Plattenbauten thematisierten.
Doch schnell wurde klar, dass sie meist nicht ihren echten Alltag verarbeiteten. Ihnen ging es darum, Tabus zu brechen, um Aufmerksamkeit zu erlangen: In der Manier von US-Rappern aus der Bronx stellten plötzlich deutsche MCs aus Berlin-Wedding oder Reinickendorf ihr Leben als ständigen Überlebenskampf dar und glorifizierten Waffen, Drogen sowie Gewalt. Immer mit dabei: eine gehörige Portion Frauenfeindlichkeit und Homophobie bis hin zu nationalistischen Parolen. Dieses fragwürdige Konzept ging auf. Die großen Labels sprangen auf den Deutschrap-Zug auf. Bushido, neben Sido momentan der angesagteste Hip Hop-Musiker im deutschsprachigen Raum, erreichte mit über 200.000 Exemplaren seines Longplayers „Von der Skyline zum Bordstein zurück“ Platinstatus. Seinen biografischen Kinofilm stürmten am ersten Wochenende trotz schlechter Kritiken rund 300.000 Menschen.
Der Autor Murat Güngör, einst selbst Rapmusiker, sieht den Hype um die „bösen Buben“ mittlerweile wieder am Abflauen. „Dazu hat sicher die kritische Berichterstattung beigetragen. Aber der Markt ist ganz einfach gesättigt“, erklärt der Szenekenner. Die Formen von Hip Hop, bei denen andere Dinge im Mittelpunkt stehen als Klunker und Glock-Pistolen, haben jedenfalls schon so manchen lokalen, nationalen oder globalen Trend überlebt. Es sind jene aufmüpfigen Formen, für die man neben einem Plattenspieler und einem Mikrofon nur noch zweierlei benötigt: Experimentierfreudigkeit und neue Ideen. Denn nur so bleibt man „fresh“. Richard Solder lebt in Wien, arbeitet als freier Journalist für Tages- und Wochenzeitungen und bloggt auf www.w-orte.net.
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.