Mit der Bibel gegen Gewalt

Von Redaktion · · 2009/12

Mitten in der Hoffnungslosigkeit der Armenviertel Guatemalas verbuchen evangelikale Kirchen beachtliche Erfolge bei Jugendlichen: Ehemalige Bandenmitglieder tauschen ihre Pistole gegen die Bibel ein. Andreas Boueke aus Guatemala Stadt

Es wird dunkel in Peronia, einem der vielen Armenviertel in der Umgebung von Guatemala Stadt. Hier ist der siebzehnjährige Sergio aufgewachsen. „Meine Eltern haben mich oft geschlagen“, erinnert er sich. Mit vierzehn ist er von Zuhause weggelaufen und hat sich einer Jugendbande angeschlossen. „Die Burschen haben mir die Unterstützung gegeben, die mir zu Hause fehlte. Bei ihnen wird gelacht, gespielt, wir besaufen uns, es gibt Drogen, all das.“

Für Sergio und seine Kumpels hat das Armenviertel wenig zu bieten. Es gibt keine öffentliche Sekundarschule, kein Krankenhaus, keine Sportplätze, keine Arbeit. Aber es gibt die „Mara 18“, eine der berüchtigten Jugendbanden, deren Mitglieder in ganz Mittelamerika operieren. „Die Leute trauen sich nicht mehr auf die Straße, denn wenn wir nachts jemand rumlaufen sehen, halten wir ihn an. Du untersuchst den Kerl und nimmst ihm sein Geld ab. Dann sagst du: ‚Hau ab, ich will dich nicht mehr sehen.‘ Der Typ geht weg, völlig eingeschüchtert, aber wenn er sich noch einmal umschaut: Gleich draufhalten. Drei Schüsse und die Sache ist erledigt.“

In den Armenvierteln von Guatemala-Stadt ist die Angst vor der zunehmenden Gewalt allgegenwärtig. Der fünfzehnjährige Michael weiß, dass die Täter immer jünger werden: „Einmal sind wir nachts mit meinen Freunden hinter einem Verkäufer hergegangen. Einer hat eine Pistole rausgeholt. Die andern haben mir gesagt: ‚Wenn du wirklich bei uns mitmachen willst, dann töte ihn.‘ Ich hätte es fast getan. Aber dann fingen meine Hände an zu zittern. Ich hatte Angst. Ein anderer wurde wütend. Er hat mich weggeschupst und hat ihn erschossen. Einfach so, kaltblütig.“

Ortswechsel: Kindergottesdienst in der Fraternidad Cristiana, einer der größten evangelikalen Kirchen in Guatemala Stadt. Während die Erwachsenen in einer riesigen Halle applaudieren und schmissige Lieder singen, bekommen die Kleinen ein Rockkonzert geboten. Jaime Ramirez, ein junger Mann mit viel Gel im Haar, ist sich sicher, dass der ohrenbetäubende Beat den Kindern hilft, ihren Weg zu Gott zu finden. „Hier kannst du tanzen, du kannst dich befreien. In der katholischen Kirche geht das nicht. Da hörst Du nur die Predigt des Priesters. Hier aber kannst du Gott huldigen mit deinen Füßen, mit deinen Händen, mit deinem Mund. Das gefällt gerade den jungen Leuten.“

In dem kürzlich eröffneten, modernen Mega-Gotteshaus, das Platz für 6.000 Menschen bietet, bekommen die Gläubigen eine ausgetüftelte Show geboten. Hier gibt es keine harten Holzbänke, sondern weiche Sessel. Das Spektakel wird mit ausgeklügelter Technik aufgezeichnet und wenige Minuten nach dem Ereignis kann man sich schon die DVD als Souvenir kaufen. Professionelle AnimateurInnen bringen das Publikum in Fahrt. Gott wird gepriesen, in Begleitung von elektrischer Gitarre und Schlagzeug. Wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt ist, geht der Klingelbeutel rum.

In dem einstmals erzkatholischen Land Guatemala mit starken Einflüssen indigener Tradition der Maya bezeichnen sich heute nahezu 40 Prozent der Bevölkerung als Evangelikale. In den ärmlichen Wohnvierteln haben sich vor allem Pfingstkirchen und fundamentalistische Sekten angesiedelt. 400 evangelikale Gruppierungen mit über zehntausend Gotteshäusern und hunderten Radiostationen verbreiten in ganz Guatemala ein Weltbild, in dem soziale Unterschiede genauso nebensächlich sind wie Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Ausbeutung. Ihrer Lehre nach werden Christinnen und Christen, die ihre Gebote befolgen, dafür reich beschenkt werden. Statt sich politisch einzumischen, sollten die Menschen nur auf Gott vertrauen, meint die Kindergottesdienstleiterin Claudia: „Wir dürfen den Präsidenten des Landes nicht dazu zwingen, das zu tun, was wir wollen. Vielmehr ist es die Aufgabe der Gläubigen, dafür zu beten, dass Gott ihm Weisheit schenkt, um die Lage im Land zu verbessern.“

Der Missionserfolg der Evangelikalen ist zu einem großen Teil auf ein politisch motiviertes Engagement der USA zurückzuführen. Der im Jahr 1969 erschienene Rockefeller-Bericht der US-Regierung unter Nixon stellte fest: „Die katholische Kirche ist kein glaubwürdiger Verbündeter der USA mehr. Sie trägt nicht zur Stabilität auf diesem Kontinent bei.“ Konsequenterweise zog der Bericht die Schlussfolgerung, die evangelikale Missionsbewegung müsse gefördert werden. Ein Ratschlag, an den sich alle darauf folgenden US-Präsidenten gehalten haben. In Guatemala hat seither nahezu eine Invasion evangelikaler Sekten und Pfingstkirchen stattgefunden.

Im Kampf gegen die Jugendgewalt haben die Evangelikalen einige Erfolge vorzuweisen. Michael, der schon früh tief in die Spirale aus Armut und Gewalt hineingerutscht ist, hat eine evangelikale Gemeinde den Ausweg geebnet. Aber die Kameraden aus der Bande wollten ihn nicht so einfach gehen lassen. „Als ich gesagt habe, dass ich nicht mehr mitmachen möchte, haben einige das als Beleidigung aufgefasst. Einer hat mir sogar eine Pistole an den Kopf gehalten und gesagt, ich könne nicht aussteigen. Aber der Chef der Gruppe meinte, ich sei noch klein und dürfe deshalb entscheiden, was ich machen will. Für die Großen gelten andere Regeln. Da haben sie mir erlaubt, auszusteigen, aber nur, wenn ich Christ werde. Das bin ich dann auch geworden.“

Viele der jungen Männer in den Banden haben ein sehr negatives Selbstbild. Sie wissen, dass ihr von Gewalt und Verbrechen geprägtes Leben keine Zukunft hat. Da fällt die Botschaft der evangelikalen Kirchen auf fruchtbaren Boden, meint der Koordinator der unabhängigen Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften, FLACSO, Virgilio Álvarez: „Wenn du etwas hast, woran du glauben kannst, kommt die Hoffnung zurück. Viele Jugendliche in den Armenvierteln haben die Hoffnung auf ein besseres Leben verloren. Sie glauben, dass sie immer am Rand der Gesellschaft stehen werden. Doch das Evangelium öffnet ihnen eine Hoffnung auf sozialen Erfolg.“

Michael ist froh, rechtzeitig den Ausstieg aus seiner Bande geschafft zu haben. Das ist einer der Erfolge, den die evangelikale Bewegung im Kampf gegen Jugendkriminalität, Alkoholismus und Drogenmissbrauch für sich verbuchen kann. „Wenn ich früher deprimiert war, habe ich Drogen genommen. Heute finde ich Unterstützung im Gebet. Oder ich kann zu jemandem gehen und ihn um Rat fragen.“

Der Sozialwissenschaftler Virgilio Álvarez meint, die evangelikalen Kirchen seien für die Jugend eine Option in der Lage der Verzweiflung. „Es gibt ja sonst nichts. Die armen Jugendlichen sind die Ausgeschlossenen eines weltweiten Systems. Wir erleben eine Globalisierung, in der die Armut globalisiert wird, die Gewalt und das organisierte Verbrechen. Für diese jungen Männer gibt es keine Hoffnung, außer in den Kirchen. Angesichts der Situation des Verlassenseins und des Fehlens einer öffentlichen Politik zur Unterstützung der Jugend könnte man sagen, es ist positiv, dass sie zumindest die Möglichkeit der Flucht in die Religion haben. In der Sprache des Marxismus gesprochen ist es wohl besser, wenn sie, anstatt wirkliches Opium zu konsumieren, das Opium der Religion rauchen.“

In dem Armenviertel Peronia gibt es neben den evangelikalen Kirchen nahezu keine weiteren Angebote für Jugendliche. Eine Ausnahme ist das Projekt Peronia Adolescente, das von Jugendlichen selbst ins Leben gerufen wurde. Anfangs haben sich die Buben und Mädchen aus armen Familien gegenseitig bei den Hausaufgaben geholfen. Heute organisiert Peronia Adolescente ein jährliches Kulturfestival, sucht nach Ausbildungsplätzen und hilft bei familiären Problemen. Seit drei Jahren wird das Projekt von einer Organisation aus den Niederlanden unterstützt. So konnte Peronia Adolescente Räume anmieten, in denen sich regelmäßig zwei bis drei Dutzend Buben und Mädchen treffen. An manchen Wochentagen übernachtet eine Gruppe auf alten Matratzen und kocht gemeinsam Mahlzeiten auf einem rostigen Gasherd. Für viele ist das kleine Zentrum wie ein zweites Zuhause, so auch für die vierzehnjährige Yohana. „Manchmal bist du traurig. Wenn du dann hierher kommst, muntern dich alle auf. Du kannst schreien, deine ganzen Energien rauslassen, und auch weinen.“

Wenn der Sozialwissenschaftler Virgilio Álvarez Projekte wie Peronia Adolescente mit der Heilsbotschaft der Evangelikalen vergleicht, dann sieht er in der Eigeninitiative der Jugendlichen mehr Möglichkeiten, das Problem der Jugendgewalt in Guatemala einzudämmen: „Die Anstrengungen der Jugend müssen unterstützt werden, um eine soziale Inkorporation zu erreichen. Dabei darf nichts ausgeklammert werden. Rock, Rap, Hip-Hop, all das ist Ausdruck der Jugendkultur und muss gestärkt werden.“

Auch Sergio, der weiterhin aktiv bei der Mara 18 mitmacht, weiß, dass sein Leben so nicht lange weitergehen kann. Wenn er eines Tages Vater wird, soll sein Kind es besser haben. „Ich möchte meinem Kind die Liebe eines Vaters geben. Es soll nicht meinen Spuren folgen, sondern zur Schule gehen und eine anständige Arbeit machen. Ich fühle mich zwar gut mit dem, was ich mache. Ich kann leichtes Geld verdienen, aber ich hatte nicht die Möglichkeit, etwas zu lernen. Mein Kind soll zur Schule gehen, und nicht zurück bleiben, so wie ich.“

Der deutsche Journalist und Buchautor Andreas Boueke lebt seit über 15 Jahren als freier Journalist in Guatemala.

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