Das Trauma überwinden

Von Katrin Gänsler · ·
Am Strand von Ouidah ist für John Carter und Martine de Souza die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels bis heute allgegenwärtig. © Katrin Gänsler

Die gravierenden Folgen des transatlantischen Sklavenhandels sind lange ein Tabu-Thema gewesen. Jetzt wollen Menschen mit Vorfahren aus Westafrika mehr darüber erfahren, etwa in Benin.

Von Katrin Gänsler, Ouidah

John Carter steht wieder am Strand knapp außerhalb der Stadt Ouidah im westafrikanischen Benin. Es ist sein zweiter Besuch seit 2007 und ihm kommen die Tränen. „Wenn ich dem Wind zuhöre, dann höre ich ihre Stimmen. Ich höre, wie Männer und Frauen schreien“, sagt er und schließt die Augen. Der Besuch in Ouidah ist für den Vater zweier erwachsener Kinder aus den USA kein Urlaub, sondern die traurige und mühsame Aufarbeitung seiner Familiengeschichte.

Ouidah liegt rund 40 Kilometer westlich der Wirtschaftsmetropole Cotonou. In den vergangenen Jahren sind Geschäfte mit Handwerkskunst und ein paar schicke Restaurants eröffnet worden und die Stadt wurde zum beliebten Ausflugsort – allerdings mit sehr wechselvoller Geschichte.

Von ihr zeugen etwa noch einige Gebäude aus der Kolonialzeit, ein Denkmal und Strandgut. Carters Vorfahr:innen wurden als Sklav:innen in die heutige USA gebracht. An diesem Strand wurden sie vor hunderten Jahren in die Holzboote gepfercht. „Tausende Menschen müssen schon hier ertrunken sein. Einige sind wohl aus den Booten gesprungen“, sagt Carter.

Ouidah als bedeutender Hafenort

Ein Denkmal wurde den Sklav:innen immerhin mit der 1995 fertiggestellten „Pforte ohne Wiederkehr“ gesetzt. Das monumentale Tor, das gerade renoviert wird, markiert das Ende der Sklavenroute, über die Frauen, Männer und Kinder aus der Stadt zu den Booten gehen mussten: ohne Trinkwasser, dafür mit Ketten an den Füßen und durch eine Lagune. 2021 wurde beantragt, die Route auf die Welterbeliste der UNESCO zu setzen.

Es wird geschätzt, dass zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert bis zu 12,8 Millionen Afrikaner:innen nach Amerika verschleppt wurden. Ouidah war vor allem im 18. Jahrhundert ein bedeutender Hafenort. Der Sklavenhandel wurde lange von Portugal dominiert, bevor Niederlande dazukam. Viele Sklav:innen waren zuvor in kriegerischen Auseinandersetzungen von Herrschern westafrikanischer Reiche gefangengenommen worden, die sie nach Europa verkauften. Gezahlt wurde mit Stoffen, Waffen und Alkohol.

Alte und neue Sklaverei

Am Strand von Ouidah steht Martine de Souza neben Carter. Als Guide zeigt sie Besucher:innen ihre Heimatstadt und fordert endlich eine Aufarbeitung der Geschichte. Die Frau in dem blauen Batikkleid hält eine im ersten Moment unscheinbare bräunlich-grüne Glasscherbe in der Hand. Sie hat sie am Strand gefunden und fährt mit der Kuppe ihres Zeigefingers über das darauf befindliche Relief. „Das war einmal eine Ginflasche aus dem 19. Jahrhundert“, sagt sie und fügt verächtlich hinzu: „Uns wurde dagegen verboten, unseren eigenen Alkohol zu produzieren.“

Die Geschichte der Sklaverei ist allgegenwärtig. Und: Sklaverei ist kein Phänomen vergangener Zeiten. Die Internationale Organisation für Arbeit (ILO) schätzt, dass bis heute 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei leben. Das sind beispielsweise junge Frauen, die aus Nigeria nach Europa verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden, oder Kinder der armen Landbevölkerung in Westafrika, die in städtischen Haushalten schuften müssen.

Zurück nach Ouidah. De Souza hat zu einer Zeremonie eingeladen. Dutzende Menschen haben sich unter einem großen, alten Baum mitten auf dem Place Chacha im Zentrum der Stadt versammelt. Auch dieser Ort ist historisch, fand hier doch einst der Sklavenmarkt statt. Als sie vor knapp 40 Jahren ein Teenager war, erlebte sie bereits, wie sehr Menschen darunter leiden, wenn sie ihre Herkunft nicht kennen und die Familiengeschichte ein Tabu bleibt. In der Zeremonie, bei der Kolanüsse – sie gelten in Teilen Westafrikas als Zeichen der Gastfreundschaft – gereicht werden, geht es um Versöhnung. Das Leid der Vorfahren wird angesprochen und anerkannt, und die Teilnehmer:innen, unter denen auch ein Niederländer ist, sollen Ruhe finden.

Heimat Afrika

Vorfahren aus Afrika zu haben, das galt lange als Makel. Carter weiß: Unter seinen Ahnen befindet sich ein Koffi, was übersetzt Freitag heißt und von Benin bis in die Elfenbeinküste ein gebräuchlicher Name ist. „Aber niemand wollte sagen, dass Großvater aus Afrika stammt. Stattdessen hieß es: Er kommt aus Virginia oder Pennsylvania.“ Seit den 1960er Jahren hat sich das geändert. Durch die Debatte um Entkolonialisierung ist das Thema nun erneut präsent. Auch Carter spricht bei jeder Gelegenheit darüber und sagt den Afro-Amerikaner:innen: „Ihr müsst mindestens einmal im Leben nach Afrika kommen. Man kann immer nach Europa reisen. Aber Afrika, das ist Heimat.“

Katrin Gänsler lebt und arbeitet seit 2010 als Korrespondentin, Autorin und Reporterin in Westafrika.

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