Was hinter der Bekämpfung der Fluchtursachen steckt

Von Christine Tragler · ·

Aktuell wird es in Europa wieder zum Mantra: die Bekämpfung der Fluchtursachen. Soziologe Olaf Bernau widerspricht im Interview dabei v.a. in Hinblick auf Afrika gängigen Annahmen vehement.

Die Zahl der Asylanträge stieg im ersten Halbjahr 2022 aktuell stark an. Rufe nach mehr Kontrolle werden wieder lauter. Österreichs Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) spricht von nötigem „Anti-Marketing“ in Herkunftsländern.
Migration zu stoppen sei unmöglich, schreibt hingegen Olaf Bernau in seinem aktuellen Buch „Brennpunkt Afrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“. Darin stützt er sich auf afrikanische Stimmen und beleuchtet die vielfältigen ökonomischen, politischen und kulturellen Aspekte der Migration. Im Interview spricht er über die falschen Annahmen europäischer Migrationspolitik, koloniales Erbe und warum Europa Reparationszahlungen an Afrika leisten sollte. „Die selbstgerechte Haltung Europas muss sich ändern“, sagt Bernau im Interview.

(Der Artikel wurde am 29.6.2022 erstmals veröffentlicht und jetzt aktualisiert)

Am Beispiel Westafrikas zeigen Sie die Ursachen von Flucht und Migration auf und sprechen diesbezüglich von einer verfehlten Politik der Europäischen Union. Was macht Europa falsch?

Europa macht nicht erst seit Kurzem etwas falsch. Das hat bereits eine lange Geschichte – und 60 Jahre nach der Unabhängigkeit betreibt Europa in Afrika nach wie vor eine gänzlich auf europäische Interessen zugeschnittene Politik. So hat Europa in den vergangenen Jahrzehnten alles versucht, um dafür zu sorgen, dass die einmal entstandenen asymmetrischen ökonomischen und politischen Strukturen zwischen den Kontinenten aufrecht erhalten bleiben.

Ein Beispiel, bitte!

Konkret lässt sich das u. a. an der der Verschuldungskrise in den 1980er und 1990er Jahren zeigen, als Europa ganz gezielt die wirtschaftlichen Erfolge, die die afrikanischen Länder nach der Unabhängigkeit errungen hatten, zunichtemachte. Die (vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank als Bedingung für die Vergabe von Krediten oder Schuldenerlass, Anm. d. Red.) aufgezwungenen Maßnahmen wie die Marktöffnungen haben damals zu einer buchstäblichen Welle der Deindustrialisierung geführt.

Diese Haltung kann man anhand verschiedenster Bereiche durchdeklinieren, auch anhand der Rohstoffpreise. Die waren schon vor der Unabhängigkeit niedrig und sind im Zeitverlauf immer niedriger geworden. Gleichzeitig sind die Preise für verarbeitete und importierte Produkte aus den Industrieländern – relativ betrachtet – immer teurer geworden.

Die Schere ist also weiter aufgegangen. Dass das ökonomische Ungleichgewicht seither immer größer geworden ist, ist kein Zufall, sondern Effekt europäischer Interessenpolitik.

Und auf der politischen Ebene?

Europa hat seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten wenig dafür unternommen, demokratische Regierungen, die tatsächlich die Interessen afrikanischer Bevölkerungen vertreten, zu unterstützen. Im Gegenteil. Europa hat sich vielmehr darum bemüht, Regierungen wahlweise an der Macht zu halten oder teilweise sogar an die Macht zu bringen, die sich klar für europäische Interessen eingesetzt haben. Aktuell sehen wir das auch im Migrationsbereich, wo man gerne mit Regierungen zusammenarbeitet, die versuchen, die restriktive europäische Migrationspolitik umzusetzen.

Stichwort Migrationspolitik. Spätestens seit 2015 ist in der EU viel von Fluchtursachenbekämpfung die Rede und davon, dass man den Menschen vor Ort Perspektiven bieten möchte. Sind das alles nur Lippenbekenntnisse oder ist hier ein Wandel in Sicht?

Man kann nicht die Fluchtursachen bekämpfen, ohne die grundlegenden strukturellen Probleme anzugehen, beispielsweise die fehlende Industrialisierung. Die afrikanischen Länder haben einen Anteil von 17 Prozent an der Weltbevölkerung, aber nur von zwei Prozent an der weltweiten Industrieproduktion. Wenn man das wirklich ändern möchte, muss man diese Länder darin unterstützen, eine eigene Industrie aufzubauen und in lokale Ökonomien investieren. Hier fehlt aber jeder Wille. Stattdessen setzt Europa alles daran, dass günstige Bedingungen für ausländische Investoren erhalten bleiben, die die Situation vor Ort oft weiter verschlimmern. Insofern handelt es sich hier um Lippenbekenntnisse.

Zudem reichen die zur Verfügung gestellten Summen nicht aus, um die eigentlichen Probleme zu adressieren. Laut den SDGs, den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, wären jährlich 600 Milliarden US-Dollar (entspricht 572 Milliarden Euro, Anm. d. Red.) erforderlich, um sie zu erreichen. Im Rahmen der Fluchtursachenbekämpfung der EU wurden seit 2015 insgesamt fünf Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.

Gleichzeitig befinden wir uns wieder in einer Ära des Mauerbaus. Europäische Migrationspolitik beruht noch immer auf der Annahme, dass man mit einer Aufstockung des Grenzschutzes Migrant*innen stoppen kann. Geht das an der Realität vorbei?

Migration ist in Westafrika eine alte, tief in der Gesellschaft verankerte Alltagspraxis, die viel mit Überlebensstrategien zu tun hat und positiv konnotiert ist. Das bereits seit Jahrhunderten etablierte Modell der Mobilität in Westafrika ist ein zirkuläres. In manchen der afrikanischen Sprachen existiert kein Wort für Migration, so wie wir sie verstehen, also von A nach B zu gehen. Es wird von Mobilität als Prozess, als ein Hin und Her, gesprochen. Dieses Konzept kann nicht durch höher gezogene Grenzen einfach ausgehebelt werden.

Angesicht der schwierigen Lebensbedingungen erwarten auch die Familien, dass sich junge Leute auf den Weg machen. Mehr Grenzschutz macht die Wege länger und gefährlicher – und führt zu einer Brutalisierung der Verhältnisse. Etwa in Libyen, wo viele in illegalen, quasi geschlossenen Lagern angehalten werden, wo Folter stattfindet und Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Die Europäische Union nimmt das in Kauf. Sie akzeptiert sogar, dass die libysche Küstenwache, denen sie ganz bewusst Flüchtlingsboote überlässt, Migrant*innen in diese geschlossenen Detention Center (auf Deutsch: Gefangenenlager) bringt.

Sie beziehen sich in ihrem Buch fast ausschließlich auf afrikanische Autor*innen wie Chimanda Ngozi Adichie, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Achille Mbembe, Thomas Sankara oder Felwine Sarr und liefern sowohl aktuelle als auch historische Beispiele für die europäischen Verstrickungen in die vielfachen Krisen in Afrika. Sie bringen zudem konkrete Vorschläge, was Europa stattdessen tun sollte.

Was es braucht, ist eine grundsätzliche Haltungsänderung. Europa muss sich mit seiner Gewaltgeschichte auseinandersetzen und für die Verbrechen des Kolonialismus Verantwortung übernehmen. Hier geht es um Wiedergutmachung – und zwar nicht in Gestalt von Entwicklungszusammenarbeit, sondern im Sinne von Reparationszahlungen. Auf dieser Basis versuche ich im Buch zehn konkrete Maßnahmen zu formulieren, die sich ausschließlich an die europäische Seite richten. Zum Beispiel endlich faire Preise für agrarische oder mineralische Rohstoffe zu zahlen. Aber es geht auch darum, was Europa lassen sollte, beispielsweise seine eigenen landwirtschaftlichen oder industriellen Produkte zu Dumpingpreisen auf afrikanische Märkte zu werfen. Oder Migrant*innen lebensgefährlichen Situationen auszusetzen.

Eine der stärksten Kritikpunkte afrikanischer Autor*innen: Die hochgradig selbstgerechte Haltung Europas, mit der es versucht, sich aus der Affäre zu stehlen. Die muss sich ändern.

Interview: Christine Tragler

Olaf Bernau ist deutscher Soziologe und Menschenrechtsaktivist. Er hält sich jedes Jahr mehrere Wochen in Westafrika auf, wo er im Rahmen von Afrique-Europe-Interact, eines transnationalen Netzwerks mit Migrant*innen, bäuerlichen Gemeinschaften und Menschenrechtsgruppen, zusammenarbeitet. Er veröffentlicht und bloggt insbesondere zum Sahel.

Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte. C.H. Beck Verlag, 317 Seiten, 18,95 Euro

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