Der Konflikt um die Westsahara flammt wieder auf. Für die um ihr Recht auf Land kämpfende Gruppe der Sahrauis geht es dabei auch darum, nicht vom Rest der Welt vergessen zu werden.
Nach drei Jahrzehnten sprechen wieder die Waffen: Mitte November des Vorjahres rückte die marokkanische Armee aus. Sie löste eine Protestblockade auf, die Vertreter*innen der Saharauis – ursprünglich arabisch-berberische Nomaden der westlichen Sahara – bei Guerguerat, einem Ort an der Grenze zu Mauretanien durchgeführt haben.
Das veranlasste die für einen unabhängigen Staat kämpfende Organisation Frente Polisario dazu, den seit 1991 geltenden, von der UNO kontrollierten Waffenstillstand aufzukündigen.
„Guerguerat zählt zur entmilitarisierten Zone ganz im Süden der Westsahara. Also war der Armee-Einsatz Marokkos gegen Demonstranten ein klarer Bruch des Abkommens“, betont Ignacio Cembrero, Maghreb-Experte, Buchautor und langjähriger Marokko-Korrespondent im Gespräch mit dem Südwind-Magazin.
Der Grenzort ist für Marokko die Export-Pforte nach Mauretanien. Die sahrauische Unabhängigkeitsbewegung hat seine strategische Rolle wiederholt genutzt, um mit Grenzblockaden den Warentransit aus dem Maghreb-Königreich nach Süden abzuschneiden.
Francos Erbe. Bis 1975, kurz vor dem Tod von Ex-Diktator Francisco Franco, war die Westsahara eine spanische Kolonie. Die UNO forderte Spanien auf, der sahrauischen Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung zu gewähren. Doch mit dem Abzug Spaniens besetzten – mit dem Segen Madrids – Mauretanien im Süden und Marokko im Norden die Westsahara, Mauretanien ein Drittel der Fläche, Marokko den größeren Rest inklusive der Hauptstadt El Aaiún.
Damit erhielten die zwei Länder viele Kilometer fischreiche Atlantikküste, Marokko zudem die Kontrolle über die weltgrößten Phosphatvorkommen rund um die Mine von Bou Craa.
Die Frente Polisario leistete – unterstützt von Algerien – Widerstand und gründete am 27. Februar 1976 die Demokratische Arabische Republik Westsahara (DARS). Bis heute ist der 27. Februar der Nationalfeiertag der Sahrauis, der gerade zum 45. Mal begangen wird.
Mauretanien verzichtete infolge der heftigen Gegenwehr der Frente Polisario 1979 auf alle Ansprüche in der Westsahara, worauf Marokko auch das südliche Drittel der Westsahara annektierte. Was folgte, war ein Krieg, der seitens Marokkos auch massiv gegen die sahrauische Zivilbevölkerung geführt wurde, inklusive Napalm- und Phosphorbomben.
1991 einigten sich Marokko und die Frente Polisario auf einen Waffenstillstand unter der Bedingung, dass innerhalb von neun Monaten und mit Unterstützung der UNO ein Referendum über die Selbstbestimmung abgehalten werden sollte. Doch das Referendum hat bis heute nicht stattgefunden. Unter anderem, weil für Marokko eine Abstimmung, die einen unabhängigen Staat als Option vorsieht, nicht in Frage kommt.
Seit drei Generationen leben bis heute über 170.000 sahrauische Flüchtlinge in Lehmhütten und Zelten in den Lagern in Südalgerien um Tindouf nahe der von der Frente Polisario kontrollierten „freien Zone“: Diese trennt ein über 2.700 Kilometer langer Wall an Befestigungen, Militärcamps und Minenfeldern vom marokkanisch-beanspruchten Teil.
Die Frente Polisario
Die 1973 gegründete Frente Polisario (von spanisch Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro) diente als militärische und politische Organisation für den Widerstand gegen die damals noch spanische Kolonialmacht in der Westsahara.
Ab 1975/76, mit dem Abzug Spaniens und der Gründung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), richtete sich der Kampf der ehemals sozialistischen Unabhängigkeitskämpfer*innen der „Volksfront“ gegen Mauretanien und Marokko, die weite Teile der Westsahara besetzten.
Seit dem UN-Waffenstillstand von 1991 verfolgt die Frente Polisario weiter das Ziel einer Unabhängigkeit des einstigen Gesamtterritoriums mit politischen Mitteln und zivilem Ungehorsam in der marokkanischen Zone. Sitz der Exilregierung sind die Flüchtlingslager in Südalgerien bei Tindouf. jam
Marokko schweigt. Während die DARS zurzeit von „täglichen Angriffen auf marokkanische Ziele“ spricht und zugleich die „brutale Repression der Sahrauis in den ‚besetzten Gebieten‘ durch Militär und Polizeikräfte“ anprangert, schweigt die marokkanische Regierung in Rabat zu den Vorfällen. Nur einen Raketenangriff auf den Wall bei Guerguerat bestätigte auch Marokko.
Laut internationalen Menschenrechts-NGOs wie Amnesty International kommt es im Zuge des Konfliktes regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen gegen Sahrauis: Von willkürlichen Verhaftungen, Polizeigewalt, Folter und auch spurlos Verschwundenen ist die Rede.
Für Journalist*innen ist es nicht erst seit der Covid-19-Pandemie so gut wie unmöglich, sich vor Ort ein Bild zu machen. Auch EU-Abgeordnete und Aktivist*innen wurden von Marokko wiederholt an der Einreise gehindert.
Für die sahrauische Aktivistin Laila Fakhouri ist der von Marokko besetzte Teil „wie ein großes Gefängnis“, wie sie es der Schweizer Wochenzeitung WOZ gegenüber formulierte. Dort lebende Sahrauis müssten ihre Identität verbergen.
„Wir wollten diesen Krieg nicht. Wir wollten lediglich, dass die Vereinten Nationen ihren Job machen“, betont Fakhouri, die 2019 den Weimarer Menschenrechtspreis bekommen hat.
Eine Frage der Lobby. Der Konflikt wird international wenig beachtet. Die DARS verlor zudem über die Jahre Unterstützung: Von einst über 80 Staaten erkennen mittlerweile nur noch knapp 50 ihre Souveränität an. Marokko hingegen wurde von Donald Trump der Rücken gestärkt: Noch als amtierender US-Präsident twitterte er am 10. Dezember 2020, dass die USA die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkennen würden.
Ob der neue US-Präsident Joe Biden zur Kehrtwende ansetzt, ist derzeit noch völlig offen. Laut Maghreb-Experte Cembrero sind – noch aus der Trump-Zeit – zwei US-Konsulate in El Aaiún und Ad-Dakhla geplant, die Marokkos Anspruch symbolisch weiter festigen würden.
Die Sahrauis müssen sich auf den wichtigsten Partner stützen: „Die Frente Polisario handelt nur mit grünem Licht oder zumindest der Duldung Algeriens“, betont Cembrero.
An eine aktive Einmischung Algeriens in den Konflikt glaubt er nicht, „das wäre eine Eskalation, die keiner sucht“. Und auch Spanien werde keine Maßnahmen setzen, wie von der DARS gefordert.
Die EU ist Teil des Problems: Brüssel setzt auf Marokko als stabilsten Handelspartner in Nordafrika und als zuverlässigen Verbündeten in Sachen Migration. 2016 hatte der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass die Sahrauis wirtschaftlichen Aktivitäten auf ihrem Gebiet zustimmen müssen. 2019 in Kraft getretene neue Abkommen zwischen Marokko und der EU sind aus der Sicht vieler Expert*innen illegal, weil sie auch das Gebiet der Westsahara betreffen.
Hinschauen. Es scheint keine einfache Lösung für den Konflikt zu geben. Beobachter*innen wie Cembrero fürchten keinen offenen Krieg, eher wahrscheinlich scheinen bewaffnete Auseinandersetzungen niedriger Intensität auf Jahre hin.
Internationale Vermittlung ist weiterhin und mehr denn je gefragt. Die Sahrauis hoffen nun, im Zuge des Wiederaufflammens des Konfliktes, zumindest mehr Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu bekommen. Auf dass sie nicht vergessen werden.
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