In Myanmar verschärft sich die Lage weiter. Zur politischen Eskalation kommt eine Gesundheitskrise dazu.
An einem Julimorgen erreicht ein Notruf eine Gruppe ehrenamtlicher Ärzt*innen in Yangon, der größten Stadt Myanmars, dem früheren Birma. Ein Anrufer meldet, dass ein mit Covid-19 Infizierter dringend Hilfe brauche. Um 10 Uhr erreichen drei Freiwillige das zweistöckige Haus im Stadtteil Süd-Okkalapa. Als sie eintreten, schnappt die Falle zu: Kräfte der Militärjunta nehmen die Ärzt*innen gefangen. Danach werden noch zwei Kolleg*innen festgenommen, die im Büro der Gruppe gerade eine telemedizinische Sprechstunde abhielten, wie die juntakritischen Onlinemedien Myanmar Now und Irrawaddy unter Berufung auf die Ärzt*innengruppe berichteten.
Von den Festgenommenen fehlt seitdem jede Spur. Sie waren ins Fadenkreuz der Militärs geraten, da sie nicht mehr in staatlichen Krankenhäusern arbeiten wollten. Denn seit dem Putsch vom 1. Februar stehen diese unter Kontrolle der Junta.
Viele Mitarbeiter*innen staatlicher Gesundheitseinrichtungen sind seither im Streik und behandeln Patient*innen ehrenamtlich, darunter auch verletzte Demonstrant*innen.
Bis Juli wurden laut der lokalen Menschenrechtsorganisation AAPP 66 Personen aus dem Gesundheitsbereich festgenommen, darunter der Chef der Impfkampagne. Nach weiteren 571 würde gefahndet. „240 Fälle von Angriffen auf Gesundheitspersonal sind dokumentiert“, klagt der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Myanmar, Tom Andrews, im US-Sender CNN. „Man kann doch nicht Covid-19 und Ärzte und Ärztinnen, Krankenhauspersonal und Kliniken gleichzeitig bekämpfen, das verschlimmert die Situation exponentiell.“
Myanmar
Hauptstadt: Naypyidaw (bis 2005 Yangon)
Fläche: 676.578 km2 (die achtfache Fläche Österreichs)
Einwohner*innen: 54 Millionen (87 Prozent Buddhisten) verteilt auf 135 offizielle Ethnien. Die muslimischen Rohingya werden als Ethnie nicht offiziell anerkannt.
Human Development Index (HDI): Rang 147 von 189 (Österreich 18)
BIP pro Kopf: 1.402 US-Dollar (2020, Österreich: 48.105 US-Dollar)
Gini-Koeffizient (Einkommensungleichheit): 30,7 (2017, Österreich: 30,8, 2018)
Regierungssystem: Militärdiktatur seit dem Putsch vom 1. Februar 2021, zuvor parlamentarische Demokratie mit starken Sonderrechten des Militärs. Machthaber ist General Min Aung Hlaing als Vorsitzender der Staatsverwaltungsrat (SAC) genannten Junta. Der bisherige Präsident Win Myint und die frühere Regierungschefin Aung San Suu Kyi sind seit dem Putsch an unbekanntem Ort inhaftiert.
Ärzt*innen im Widerstand. Mit Ausbruch der dritten Covid-19-Welle im Juni brach Myanmars Gesundheitssystem zusammen. Zählten die Behörden Anfang Mai noch täglich 50 Neuinfizierte, waren es Anfang August über 4.500. Die offizielle Zahl der Toten lag da im Schnitt bei 365 pro Tag, freiwillige Ärzt*innen sprechen von zusammen 600 Covid-Toten allein in einigen Stadtteilen Yangons. Genaueres weiß niemand, weil kaum getestet wird. Myanmar drohe zum „Super-Spreader-Staat“ zu werden, betont Andrews.
Die Menschen misstrauen dem staatlichen Gesundheitssystem, weil es jetzt vom Militär geführt wird. Viele Covid-19-Infizierte werden dort abgewiesen und müssen zu Hause hoffen, dass Angehörige Sauerstoffflaschen und -geräte zur künstlichen Beatmung auftreiben. Die Suche nach solchen Flaschen, deren Befüllung für Privatpersonen die Junta eingeschränkt hat, dominiert die sozialen Medien.
Ärzt*innen sind in Myanmar traditionell angesehen und jetzt führend im Widerstand gegen den Coup. Ein leitender Mediziner in Mandalay organisierte am Tag nach dem Putsch den ersten öffentlichen Protest. Ärzt*innen staatlicher Krankenhäuser starteten eine friedliche Kampagne des zivilen Ungehorsams, viele Staatsangestellte schlossen sich Massendemonstrationen an.
Gegenregierung im Untergrund. Unter Führung von General Min Aung Hlaing hatte das Militär einen angeblichen Wahlbetrug zum Vorwand für den Staatsstreich genommen. Die militärnahe Partei schnitt bei den Wahlen im November 2020 schlecht ab.
Mit dem Putsch wollten die Generäle offenbar die De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi und ihre Regierung der Nationalen Liga für Demokratie kurzerhand ausschalten und wie die Militärs im benachbarten Thailand die Macht übernehmen.
Myanmars Generäle haben aber nicht mit Massenprotesten und der breiten Streikbewegung gerechnet. Seit sie dagegen mit Folter und Kopfschüssen vorgehen – Anfang August waren bereits mehr als 940 Juntagegner*innen getötet worden – gibt es nur noch sporadische Protestaktionen.
Doch die Widerstandsbewegung hat sich radikalisiert. In mehreren Regionen entstanden bewaffnete „Volksverteidigungskräfte“, die Soldaten, Repräsentant*innen des Regimes und mutmaßliche Spitzel angreifen. Rund 300 Tote dürfte es dabei bisher auf Seiten der Junta schon gegeben haben.
Im Untergrund hat sich eine ethnisch gemischte Gegenregierung gebildet. Sie organisiert einen Gesundheitsdienst aus nach eigenen Angaben 900 Ärzt*innen und versucht auch, die bisher autonom agierenden „Volksverteidigungskräfte“ zu bündeln. Einige werden von bewaffneten Gruppen der ethnischen Minderheiten trainiert, die seit Dekaden für mehr Autonomie kämpfen.
Schlechte Aussichten. Beobachter*innen sind sich einig, dass das kampferprobte und mit modernsten Waffen ausgerüstete Militär nicht zu besiegen ist, solange es sich nicht spaltet und seine Gegner*innen keine Unterstützung aus dem Ausland bekommen. „Die Situation wird immer schlimmer“, sagt ein untergetauchter 34-jähriger Aktivist, der nur Sai genannt werden will, dem Südwind-Magazin.
Schon 230.000 Angehörige ethnischer Minderheiten wurden nach UN-Angaben seit dem Putsch zu Geflüchteten. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) schrumpfte die Zahl der Arbeitsplätze im zweiten Quartal 2021 landesweit bereits um sechs Prozent oder 1,2 Millionen Jobs. 3,5 Millionen Menschen sind akut von Hunger bedroht, warnt das UN-Ernährungsprogramm WFP.
„Wir werden zum ,failed state‘, wenn die USA und die EU nicht eingreifen“, so Sai. Eine humanitäre Intervention für Myanmar fordern auch frühere UN-Gesandte, die sich zu einer diplomatischen Aktionsgruppe gegen die Junta zusammengeschlossen haben und zivilgesellschaftliche Organisationen im Widerstand unterstützen.
Doch es wird nicht dazu kommen, solange nicht nur die Militärs das ablehnen, sondern auf UN-Ebene auch China und Russland.
Keine Kompromisse. Von vielen als chancenlos werden auch Verhandlungen und Kompromisslösungen mit dem Militär betrachtet: „Niemand will dahin zurück, wo wir vorher waren“, meint Sai. „Das Militär hat uns einfach zu oft betrogen und unterschiedliche Ethnien gegeneinander ausgespielt.“
Das System vor dem Putsch war schon ein Kompromiss zwischen dem Kontrollanspruch des Militärs und den von Aung San Suu Kyi symbolisierten Demokratiehoffnungen. Dabei hatte sich das Militär per Verfassung weitreichende Rechte gesichert, doch nun mit dem Putsch eine ganz andere Situation geschaffen.
Der Historiker Thant Myint-U schreibt in der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs, der Putsch habe revolutionäre Energie ausgelöst, die kaum mehr einzudämmen sei. Die Junta könne deshalb keine Stabilität herstellen. Da die Revolutionäre das Militär absehbar auch nicht besiegen könnten, müsse es darum gehen, schnell zu Entscheidungen zu kommen, sonst zerbreche der Staat komplett. Wie das gehen soll, erklärt er allerdings nicht.
Momentan scheint Myanmar auf dem zerstörerischen Kurs in Richtung Bürgerkrieg, Chaos und Elend zu bleiben.
Sven Hansen ist Asien-Redakteur der Tageszeitung Taz in Berlin und hat die vergangenen Jahre dort Workshops für Journalist*innen aus Myanmar organisiert.
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