Südwind: Sie haben vor kurzem saharauische Flüchtlingslager rund um Tindouf in Südalgerien besucht, in denen geschätzte 130.000 bis 160.000 Menschen leben. Was sind Ihre Eindrücke?
Bayr: Die Menschen leben zum Teil seit 30 Jahren in den Lagern, die Hälfte der Saharauis ist unter der Besatzung oder in der Diaspora geboren. Und obwohl es unklar ist, wann und ob es überhaupt je eine Lösung gibt, wirken sie sehr geduldig und zuversichtlich. Die Kinder gehen in den Lagern bis zum Alter von acht Jahren in die Schule, danach werden sie eher in Internate in Algerien geschickt. Relativ viele gehen nach Europa oder anderswohin, um zu studieren. Wenn ich Ärztin oder Ingenieurin wäre und die Wahl hätte, im Ausland zu bleiben und einigermaßen vernünftig zu verdienen, oder in ein Flüchtlingslager zurück zu kehren, wo ich mehr oder weniger freiwillig arbeite, vielleicht alle drei Monate 50 Euro bekomme und vom Welternährungsprogramm der UNO leben muss – ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden würde. Dass es überhaupt Leute gibt, die zurück gehen, um all das aufrecht zu erhalten und für ihre Vision weiter zu arbeiten und zu kämpfen, finde ich sehr beeindruckend.
Wie ist die Versorgung?Die Menschen sind 100-prozentig abhängig von Nahrungsmittellieferungen. Dort, wo die Lager sind, wächst nichts. Einige der Männer betreiben Handel in der Region. Aber außer den Kindern, die in Internate gehen, bleiben die Leute in den Lagern. Die Flüchtlingslager sind von Tindouf mit dem Auto mindestens eine Stunde entfernt. Es gibt Straßen und Strom, aber das ist alles. Einmal pro Woche bringen Tankwägen Wasser. Eins der Flüchtlingslager ist in der Nähe einer kleinen Oase, sonst gibt es kein Wasser. Ich hab dort zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Zahnputzbecher geduscht.
Wie ist der Alltag organisiert?Die Polisario organisiert alles. Sehr viele arbeiten freiwillig, in den Kindergärten, der Schule, der Ambulanz. Die Polisario schaut darauf, dass diese Leute alle drei Monate zumindest ein bisschen Bargeld bekommen. Beeindruckend fand ich die Frauen. Viele Frauen haben relativ hohe Positionen und organisieren im Alltagsleben sehr viel. Es sind starke Frauen, die zwar gläubig, aber gleichzeitig sehr säkular sind, offen und locker im Umgang. Und positiv, trotz dieser wahnsinnigen Situation.
Sie haben in den Lagern auch von Österreich geförderte Projekte besucht. Welche sind das? Für viele Erwachsene, die in den Lagern aufgewachsen sind, ist „Nemsa“ – arabisch „Österreich“ – gleichbedeutend mit „Schule“. Wir haben eine Schule besucht, die der Verein Volkshilfe vor ca. fünfzehn Jahren gebaut hat, und die jetzt gerade renoviert wird. Vis-à-vis der Schule ist das „Wiener Jugendzentrum“ – das steht auch wirklich so drauf – wo es Freizeitprogramm gibt, Tischfußball, ein bisschen Berufsbildungstraining. Wir sammeln über die Stadt Wien gerade gebrauchte Musikinstrumente von Musikschulen. Ein aktuelles Projekt, das für die Identität sehr wichtig ist, ist ein Nationalarchiv, wo Schriftstücke, Dokumente, Briefe, Zeitungen und Radiosendungen archiviert werden. Beeindruckt hat mich auch eine Schule für behinderte Kinder, mit tollen Methoden und sehr viel Eigeninitiative. Was wir über die Stadt Wien noch zu fördern versuchen, sind Klimaanlagen für das Minenzentrum. Die Räume sind sehr heiß, was die Infektionsgefahr für frisch Operierte oder Verwundete erhöht. Die Westsahara hat ja weltweit die zehnthöchste Minendichte, und Marokko weigert sich bis jetzt, die Pläne herzugeben. Dazu kommt, dass sich die Minen mit der Dünenwanderung verschieben.
„Österreich“ heißt „Schule“
Projekte in den Flüchtlingslagern
Die österreichische Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) hat die Westsahara in den vergangenen Jahren u.a. in der Kindergärtnerinnen-Ausbildung und beim Bau und Erhalt von Volksschulen unterstützt. Wegen des extremen Klimas – hohe Temperaturunterschiede, Sandstürme, Trockenheit – halten Bauten nur bedingt. Dazu zerstörten ungewöhnlich starke Regenfälle und Überschwemmungen im Februar 2006 viele Gebäude. Derzeit wird die mit österreichischen Mitteln erbaute Volksschule im Lager Smara mit 500 SchülerInnen und 35 LehrerInnen renoviert.
Durch die Aktion „Ferien vom Krieg“ kommen jährlich zehn saharauische Mädchen und Buben für zwei Monate nach Österreich, um sich hier vom schwierigen Lageralltag zu erholen. Das Projekt ist auf Initiative von Karin Scheele, Mitglied des europäischen Parlaments für die SPÖ, entstanden.
Seit Mitte Juni gibt es erstmals seit sieben Jahren wieder direkte Gespräche zwischen der Regierung Marokkos und der Polisario. Was wünschen sich die Polisario-Vertreter und Saharauis, mit denen Sie in den Lagern gesprochen haben, politisch?Ein Referendum. Die Umsetzung des UNO-Plans von 2003: Autonomie unter marokkanischer Verwaltung, nach fünf Jahren ein Referendum und dann entweder wirkliche Unabhängigkeit mit eigenem Staat oder auch nicht. Die Polisario sagt, wenn das Referendum negativ für sie ausgeht, akzeptiert sie, dass die Westsahara ein Teil Marokkos ist und aus. Und die Saharauis wünschen sich, dass das Vakuum der Vermittlerrolle wieder ausgefüllt wird. Sie kritisieren, dass sich in der EU nun Frankreich und Spanien um die Frage kümmern, die auf Seiten Marokkos stehen. Auch, dass viele Handelsverträge mit Marokko abgeschlossen werden und die Chance nicht wahrgenommen wird, die Westsahara überhaupt zu thematisieren.
Marokko ist für die EU ein wesentlicher Partner in der Abwehr afrikanischer Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Europa geworden. Der Westsahara-Konflikt scheint dabei in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. Ich halte es für wichtig, sich auf europäischer Ebene einzumischen, Position zu der Frage zu beziehen und dies nicht nur Frankreich und Spanien als ehemaligen Kolonialmächten zu überlassen. Das ist innerhalb der EU ein sehr schwieriger Kampf. Ich finde aber, man soll das Thema zur Sprache zu bringen, wann immer es geht, und die Finger in die offenen Wunden Marokkos legen. Man kann auf vielen Ebenen etwas tun und Bewusstsein schaffen, um diesen Konflikt in die Tagespolitik zurück zu holen.