Gewonnen hat Brasilien“, stand auf dem T-Shirt. Dieses trug Präsident Luis Inácio da Silva, allgemein als Lula bekannt und bezeichnet, am 29. Oktober des Vorjahres in der Avenida Paulista, dem von den Glaspalästen der Banken und internationalen Konzerne umsäumten Geschäftszentrum von São Paulo, als er an einer Parade zur Feier seines zweiten Wahlsieges teilnahm. Schon vier Jahre zuvor hatte der aus ärmsten Verhältnissen stammende spätere Gewerkschaftsführer – im vierten Anlauf – die Präsidentenwahlen für sich entscheiden können. Seit damals hat sich im größten Staat Lateinamerikas und fünftgrößten Land der Welt viel verändert. Allerdings nicht gerade in dem Sinn, wie es sich die meisten Wählerinnen und Wähler des Führers der Arbeiterpartei (PT) erhofft hatten.
Nach dem vorwiegend negativen Erbe der achtjährigen Regierungszeit von Fernando Henrique Cardoso mit Rekordarbeitslosigkeit und Rekordinflation legte die Regierung Lula I das Hauptaugenmerk auf die makroökonomische Stabilisierung des Landes. Und das mit vollem Erfolg. Das Bruttoinlandsprodukt der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas wächst ständig, heuer dürfte eine Rekordwachstumsrate von 4,1 Prozent erreicht werden. Die Inflationsrate ist 2006 zum vierten Mal in Folge gesunken und auf einem Tiefstwert von 3,14 % angelangt, während die Zahlungsbilanz im selben Zeitraum ununterbrochen mit Überschüssen abgeschlossen hat. Die Landeswährung Real (R$) hat in der Regierungszeit Lula gegenüber dem US-Dollar ihren Wert fast verdoppelt; kürzlich unterschritt der Wechselkurs die psychologisch wichtige Marke von 2 R$ . Ende 2005 hat die Regierung aus ihren Devisenreserven sogar ihre restliche Schuld beim Internationalen Währungsfonds in der Höhe von 15,5 Mrd. Dollar vorzeitig zurückgezahlt. Ebenfalls in den vier Jahren der ersten Amtszeit von Präsident Lula hat Brasilien seine Exporte vervierfacht. Das Land ist weltweit der größte Produzent und Exporteur von Zucker, Kaffee und Orangensaft sowie der größte Exporteur von Tabak, Rindfleisch und Geflügel.
Diese wirtschaftliche Erfolgsbilanz bedeutet jedoch nicht, dass das Millionenheer der Armen und Verzweifelten in den Elendsvierteln der Großstädte und in den unterentwickelten ländlichen Regionen von dem Wachstum dauerhaft profitieren würde – außer durch die Sozialprogramme der Regierung. Die Einkommensungleichheit ist in Brasilien weiterhin so groß wie in wenigen anderen Staaten der Welt, und bei der Ungleichheit des Bodenbesitzes ist das südamerikanische Riesenland überhaupt Weltmeister.
Die schlechten Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft halten an. „Viele Menschen sehen einfach keine andere Alternative und nehmen auch den miesesten Job an“, erklärt Marta Pinto, Rechtsberaterin der Landpastorale (CPT) der katholischen Kirche, der wohl engagiertesten sozialen Institution im ländlichen Raum. Die Maßnahmen der Regierung Lula gegen die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen auf den Plantagen seien wohl richtig, doch werde dieses Übel nicht ausgerottet, solange die Menschen am Land keine anderen Einkommensmöglichkeiten finden. Marta Pinto sieht aber auch, wie so viele andere Kritikerinnen und Kritiker des brasilianischen Präsidenten, die Beschränkungen des Regierungschefs: „Seit Jahren liegt ein Gesetzesentwurf im Parlament, der die Enteignung von Grundbesitzern vorsieht, die Arbeiter unter menschenunwürdigen Bedingungen beschäftigen. Deren Land sollte dann der Agrarreform zugeführt werden. Doch die Großgrundbesitzer und ihre Freunde haben die Verabschiedung dieses Gesetzes bis jetzt erfolgreich verhindert.“
Seit 1995 haben die mobilen Überwachungsgruppen des Arbeitsministeriums fast 26.000 Menschen aus sklavenähnlichen Bedingungen befreit und entschädigt. Kürzlich wurde auch der Großgrundbesitzer Vitalmiro Bastos de Moura dieses Vergehens angeklagt. Im vergangenen Mai war er bereits zu 30 Jahren Haft verurteilt worden, da er den Mord an der US-Nonne und Umweltschützerin Dorothy Stang in Auftrag gegeben hatte (vgl. SWM 3/05 S.13 und 2/06 S.13).
Der Hit vom Agro-Sprit: Brasilien besitzt eine langjährige Erfahrung mit dem aus Zuckerrohr gewonnenen Ethanol. Bisher wurde dieser „Alko-Sprit“ vor allem für den Binnenmarkt produziert. Der weltweit steigende Durst nach pflanzlichen Treibstoffen (vgl. Thema in SWM 5/07) und entsprechende Verordnungen in der EU und anderen Industriestaaten lassen im südamerikanischen Riesenland die Regierung und die großen Agrarexporteure frohlocken. US-Präsident George Bush hat angekündigt, bis 2017 15 Prozent des Treibstoffes durch Ethanol zu ersetzen. Doch selbst zwei Treffen zwischen Lula und Bush im vergangenen März haben noch zu keinem Abschluss eines entsprechenden Abkommens geführt. Brasilien will eine Verringerung der US-Importzölle erreichen.
Ein Konferenzsaal im Regierungszentrum von Salvador, der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia. Am Podium sitzen neben VertreterInnen brasilianischer Institutionen einige auffallend hellhäutige (blasse) Menschen: eine Delegation von Abgeordneten der deutschen Grünen. Sie kamen nach Brasilien, um hier Möglichkeiten zu sondieren, „Energiepolitik mit Ökologie und Sozialpolitik zu verbinden“, wie es der Parlamentarier Thilo Hoppe formuliert.
Während auf deutscher Seite der Umbau von Volkswirtschaften in Richtung erneuerbare Energien – u.a. pflanzliche Treibstoffe – im Mittelpunkt der Debatte steht, fragen sich die brasilianischen RegierungsvertreterInnen, wie es am besten bewerkstelligt werden kann, dass die Kleinbauern mehr vom Agrodiesel-Boom profitieren und nicht nur das Agrobusiness. Die Steigerung der kleinbäuerlichen Wertschöpfung gilt als bestes Mittel der Armutsbekämpfung. Tatsächlich wurden hier bereits wichtige Schritte gesetzt: Förderung der familiären Landwirtschaft, u.a. durch steuerliche Anreize, Förderung der kleinbäuerlichen Produktion von Rhizinus, Sonnenblumen, Raps und Palmöl zur Gewinnung von Agro-Sprit und Schaffung eines Sozial-Labels für diesen Treibstoff. Der ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin schlägt zum Abschluss vor, die bilaterale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet zu intensivieren. Eine endlose Schlange von Menschen in roten T-Shirts und mit roten Fahnen zieht durch das Regierungsviertel der Hauptstadt Brasilia. Es ist der 15. Juni, soeben ist der 5. Kongress der Landlosenbewegung MST zu Ende gegangen. 17.500 Delegierte (!) haben daran teilgenommen, 40 Prozent von ihnen Frauen. Im Mittelpunkt der dreieinhalbtägigen Debatten stand die Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die auch unter der Regierung Lula II fortgesetzt wird, und der Kampf um eine effizientere Agrarreform. João Pedro Stedile, Mitglied der Nationalen Leitung der MST, plädierte für eine neue Agrarreform: „Es reicht nicht aus, den Landlosen ein Stück Land zu geben. Es müssen neue, vor allem inländische Absatzmöglichkeiten geschaffen werden und es muss ökologisch und nachhaltig produziert werden, so der MST-Führer.
Die Kritik am Präsidenten war kein Thema am Kongress. Die Landlosenbewegung äußert zwar immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der Politik ihres einstigen Verbündeten, doch will sie einen Bruch mit dem Staatschef vermeiden. Die Landbesetzungen gehen weiter wie eh und je, und Brasilien ist nach wie vor das Land mit der – nach Indien – stärksten, radikalsten und konstruktivsten Bauernbewegung der Welt.
Präsident Lula versucht – und zwar mit vollem Erfolg –, die Interessen des Großkapitals, der Unternehmer, des Agrobusiness zu vertreten und gleichzeitig durch Sozialprogramme und ansatzweise Hilfe zur Selbsthilfe die Armut zu bekämpfen. Die zweite Regierungszeit wird wohl noch stärker von der Wachstumsbesessenheit Lulas geprägt sein. Sein Versprechen aus dem Wahlkampf 2002, bis zum Ende seiner Amtszeit werde jeder Brasilianer seine drei Mahlzeiten täglich essen können, wird der Staatschef, der aus dem Nichts kam, auch bis 2010, dem Ende seiner Präsidentschaft, nicht einlösen können.