Trotz warnender Stimmen versucht der Norden, vor der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation in Seattle eine einseitige Agenda auf die Tagesordnung zu bringen.
Jedenfalls auf dem Tisch ist die weitere Liberalisierung im Landwirtschafts- und Dienstleistungshandel sowie eine Überprüfung der Ergebnisse der Uruguay-Runde (1986-1994) des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT. Letzteres ist für die meisten Entwicklungsländer besonders wichtig: Sie wollen Seattle nutzen, um eine Bilanz dieser letzten großen Liberalisierungsrunde zu ziehen.
Und diese Erfahrungen sind – unter dem Strich – in vielen Bereichen negativ. So negativ, daß die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) sich in ihrem jüngsten Bericht gezwungen sah, eine ernsthafte Warnung auszusprechen (siehe auch Artikel Seite 31): Die aktuelle Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft sei nicht haltbar. Notwendig sei zumindest eine radikale Marktöffnung der reichen Länder zugunsten der Entwicklungsländer, gepaart mit einer Reparatur der Regeln der WTO, die es dem Süden schwer machen, wettbewerbsfähige Industrien aufzubauen.
Nach Ansicht der UNCTAD läuft die Liberalisierung in vielen Ländern zu rasch – das ist auch eine der wenigen Lehren aus der Finanzkrise, die der raschen Kapitalverkehrsliberalisierung in asiatischen Ländern folgte.
Und außerdem zu einseitig: Die Schlagseite zugunsten der reichen Länder bzw. ihrer Unternehmen, die das Handelssystem insbesondere seit der Uruguay-Runde aufweist, wird immer offensichtlicher. Und es könnte sein, daß nun eine kritische Masse erreicht wurde: Aus vielen Vorschlägen in Genf läßt sich entnehmen, daß die Entwicklungsländer diesmal entschlossen sind, ihre systematische Benachteiligung zum Thema zu machen.
An Beispielen herrscht kein Mangel. Etwa das Multifaserabkommen (MFA), das seit 1974 die Textilexporte der ärmeren Länder strikten Mengenbeschränkungen unterwarf und erst 2005 endgültig auslaufen soll. Bis 1998 wurden jedoch nur Produkte liberalisiert, für die keine Beschränkungen bestanden. Abkommen bzw. Beschlüsse über Zollfreiheit für Produkte der Informationstechnik (1996 in Singapur) und elektronischen Handel (1998 in Genf) werden dagegen regelrecht durchgepeitscht.
Im Dienstleistungshandel wiederum werden Bereiche liberalisiert, die Unternehmen aus dem Norden begünstigen wie die Abkommen über grundlegende Fernmeldedienste und Finanzdienstleistungen (beide 1997). Für Bereiche im Interesse der ärmeren Länder, etwa die Bauwirtschaft, ist offenbar keine Dringlichkeit gegeben.
Während Subventionen, die vor allem in reichen Ländern üblich sind, vor der WTO nicht anfechtbar sind wie etwa für Forschung und Entwicklung, regionale Entwicklung und Umwelt, sind Subventionen, die vor allem Entwicklungsländer vergeben, untersagt. Etwa erklärte die WTO die Exportsubventionen an einen brasilianischen Flugzeughersteller für illegal, die Brasilien mit dem Nachteil begründet hatte, den Unternehmen aus Entwicklungsländern bei der Finanzierung erleiden. Aufgrund der „Risikoprämie“ für ihr Land müssen Unternehmen im Süden um einige Prozent mehr an Zinsen bezahlen als ihre Konkurrenten im Norden.
Bestimmungen zur besonderen und differenzierten Behandlung von Entwicklungsländern, die seit 1965 – als allerdings nicht durchsetzbare Verpflichtungen – Bestandteil des GATT sind, wurden nie entsprechend umgesetzt und werden weiter ausgehöhlt.
Indien etwa stützte mengenmäßige Beschränkungen für Landwirtschaftsimporte auf eine dieser Bestimmungen, die solche Maßnahmen zum Schutz der Zahlungsbilanz eines Landes gestatten, erlitt aber vergangenen Sommer vor der WTO eine Niederlage. Ein Argument: Würde Indien seine Landwirtschaft umstrukturieren, sprich: den Schutz der Kleinbauern zugunsten einer kommerziellen Agroindustrie aufgeben, wäre das Problem nicht gegeben.
Das Resultat ist eine wachsende Verärgerung und Desillusionierung. Kein indisches Unternehmen sei international wettbewerbsfähig, „wegen des Lizenzsystems und der sozialistischen Politik der Vergangenheit, erklärt Rahul Bajaj, Chef eines Motorrad-Unternehmens im indischen Poona (und 1998 Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums in Davos), dem Magazin Euromoney. „Und dann wollen sie die Wirtschaft öffnen und die Importzölle senken. Anstatt der Chance, daß es im Jahr 2010 oder 2020 50 bis 100 indische Multis gibt, würden 80 Prozent unserer 200 größten Unternehmen Ausländern gehören. Das halte ich für inakzeptabel. Man sagt, das sei nationalistisch. Engstirnig. Wenn Sie mich fragen: alles Bullshit.“
Andererseits ist Entwicklungsländern auch durchaus bewußt, daß sie von mehr Wettbewerb profitieren können: Moderne und effektive Dienstleistungen, ob in Telekommunikation, Finanz, Energieversorgung oder Informationstechnik, sind Voraussetzungen für eine wettbewerbsfähige Industrie. Marktöffnung muß auch nicht zwangsläufig zum Untergang der inländischen Unternehmen führen, sofern man die entsprechenden Bedingungen kontrollieren kann: In China etwa, das dem Regelwerk der WTO noch nicht untersteht, haben offenbar einige Konzerne die Lernfähigkeit der chinesischen Konkurrenz unterschätzt: Chinesische Unternehmen setzen sich in Branchen wie Unterhaltungselektronik, Haushaltsgeräte, Mobiltelefone, Telekom-Ausrüstung oder Computer gegen Konzerne wie Whirlpool, Motorola, Ericsson oder Compaq durch und sind drauf und dran, in den Export zu gehen.
Glaubt man allerdings den Klagen mancher westlicher Unternehmen, dann ist Produktpiraterie in China gang und gebe, und man hat Probleme im Vertrieb. Kein Wunder, daß eine Öffnung des Einzelhandelssektors eine der Bedingungen ist, die China vor einem Beitritt zur WTO erfüllen soll.
Unter bestimmten Bedingungen – und auf längere Sicht – kann die Liberalisierung also durchaus von Vorteil sein. Allein langfristig, um John Maynard Keynes zu zitieren, sind wir alle tot, und nur wenige Länder verfügen über das intellektuelle und technologische Potential von China oder Indien.
Wer jedes Jahr zwei Millionen neue und wenig qualifizierte Arbeitskräfte integrieren muß wie etwa Indonesien, braucht mehr als bloß Effizienz, und um die nötigen Importe und den Schuldendienst bezahlen zu können, muß heute exportiert werden und nicht in zehn, 20 Jahren.
Zahlreiche Funktionäre internationaler Organisationen haben offenbar den Ernst der Lage erfaßt. Nicht umsonst fordern etwa der WTO-Generaldirektor Michael Moore, die Weltbank oder der Generalsekretär der OECD, Donald Johnston, eine „Entwicklungsrunde“. Die Politik der reichen Länder sei manchmal eher von engstirnigen wirtschaftlichen Interessen bestimmt, warnt Johnston. Das Ergebnis: Die Entwicklungsländer würden zu einer Öffnung ihrer Wirtschaften getrieben, bevor sie sich entsprechend anpassen könnten. Eine Entwicklungsrunde wäre im wohlverstanden Eigeninteresse des Nordens.
Den Regierungen der reichen Länder müßte es also gelingen, sowohl die Expansionsinteressen ihrer Unternehmen als auch ihre protektionistischen Lobbies in die Schranken zu weisen: Die UNCTAD geht davon aus, daß Entwicklungsländern allein durch den Protektionismus im Industriebereich ein Exportpotential von rund 700 Milliarden US-Dollar entgeht. Davon ist vorläufig jedoch nichts zu bemerken, wenn man vom Angebot absieht, zumindest den ärmsten Ländern freien Marktzugang und verstärkte technische Hilfe zu gewähren.
Im übrigen richten sich die Vorschläge der reichen Länder großteils nach den Forderungen ihrer Unternehmen, die sich in Lobbies wie dem Transatlantic Business Dialogue (TABD) zusammengeschlossen haben. Im Mai etwa appellierte der TABD an Brüssel und Washington, sich mit aller Entschlossenheit gegen eine Abschwächung oder Neuverhandlung des Abkommens zum Schutz der geistigen Eigentumsrechte (TRIPS) einzusetzen, nachdem bekannt wurde, daß einige Entwicklungsländer solche Absichten verfolgen.
Und die TRIPS-Position der EU? „Eine Senkung der Standards oder eine Einräumung weiterer Übergangsperioden sollte daher in zukünftigen Verhandlungen kein Thema sein“, heißt es in einer Mitteilung an die WTO im Juni.
Auch die übrigen Themen, die von Brüssel eingebracht werden, entsprechen den TABD-Forderungen: Die Liberalisierung bei Investitionen, die Transparenz im Beschaffungswesen und die Nicht-Diskriminierung ausländischer Unternehmen (sprich: Wettbewerbspolitik) stehen auch ganz oben auf der Liste des TABD. Wer bestimme eigentlich die Agenda in der Handelspolitik, die Regierungen oder die Unternehmen, so eine rhetorische Frage von Arthur Dunkel, einem früheren Generaldirektor des GATT bei einem Seminar über die Milleniumsrunde im Juli in New York.
Dieses scheinbar abgekartete Spiel zwischen Regierungen und Unternehmen, so Dunkel, sei die Erklärung für die aggressive Haltung der Zivilgesellschaft gegen die WTO.
Zumindest in diesem Punkt hat man sichtlich aus dem Fiasko mit dem Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI) gelernt. Nun wird versucht, durch offensive Öffentlichkeitsarbeit und entsprechende Forderungen zumindest die einflußreichen Gewerkschaften und Umweltorganisationen zu neutralisieren. US-Präsident Bill Clinton betont wiederholt, daß nur eine gebührende Aufmerksamkeit für Sozial- und Umweltstandards die öffentliche Unterstützung der WTO sicherstellen könnte. Und NROs sollen etwa das Recht erhalten, an der Streitbeilegung der WTO durch Stellungnahmen und Beiträge mitzuwirken. Ein im Oktober publizierter WTO-Bericht, in dem erstmals eingestanden wird, daß Handel sich auch nachteilig auf die Umwelt auswirken kann, soll offenbar denselben Zweck erfüllen: Zumindest berichte der britische Economist von positiven Reaktionen etwa des World Wide Fund for Nature (WWF). Geht die Strategie auf, bleiben nur ein paar „radikale Gruppen“ übrig, die man nicht ernstzunehmen braucht. Gelingt es nicht, diese Themen in die WTO zu bringen, kann den Entwicklungsländern die Schuld zugeschoben werden.
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