1997 kündigte der damalige Staats- und Parteichef Jiang Zemin an, China werde eine aktivere weltpolitische Rolle spielen – durch eine „Öffnung in alle Richtungen … Entwicklung einer offenen Wirtschaft, Ausbau der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Optimierung unserer Wirtschaftsstruktur und Verbesserung der Qualität unserer nationalen Wirtschaft“. Das war das offizielle Signal der wirtschaftlichen Öffnung Chinas. Heute ist das Land dermaßen in die globale Wirtschaft integriert, dass die ganze Welt an seinem wirtschaftlichen Erfolg interessiert ist: China ist der zweitwichtigste Exportmarkt Japans und ein wichtiger Motor des dortigen Aufschwungs nach zehn Jahren Rezession. Kaum gibt es Anzeichen eines geringeren Wachstums in China, zittern die Finanzmärkte in Tokio. Ende 2004 verfügte die Chinesische Volksbank (die Zentralbank des Landes) nach Agenturangaben über Währungsreserven von 540 Mrd. Dollar. In den beiden vergangenen Jahrzehnten flossen rund 600 Mrd. Dollar Auslandsinvestitionen nach China, und fast 65 Prozent der Exporte des Landes stammen von Tochtergesellschaften transnationaler Unternehmen.
Die Transformation zu einer Marktwirtschaft, die Ende der 1970er Jahre begann, erreichte 2001 mit dem WTO-Beitritt Chinas einen Höhepunkt – fast 15 Jahre war darüber verhandelt worden. Für die chinesische Führung war der Beitritt eine Sache des Prestiges, ein Zeichen, dass das Land nun bereit war, mit den „Großen“ mitzuspielen.
Viele Entwicklungsländer begrüßten den Beitritt Chinas, in der Hoffnung, einen Mitstreiter für die Interessen des Südens zu gewinnen. Tatsächlich verhinderte China gemeinsam mit Indien und Malaysia das von den reichen Ländern angestrebte Investitionsabkommen. Darüber hinaus hat China durch die vehemente Vertretung seiner eigenen Interessen einen wichtigen Demonstrationseffekt auf andere Entwicklungsländer: Als die USA 2003 China Dumping vorwarfen und Ausgleichszölle auf mehrere chinesische Produkte einhoben, sagte China einfach die US-Reise einer hochrangigen Delegation ab, die einen Vertrag über die Lieferung von US-Agrarprodukten hätte unterzeichnen sollen.
Zusammen mit Indien, Brasilien und Südafrika bezog China bei der WTO-Ministerkonferenz in Cancún im September 2003 Position gegen die Landwirtschaftslobbys der USA und der EU. Mit China repräsentiert die G-20, die damals entstandene Koalition von Entwicklungsländern, 60 Prozent der BäuerInnen der Welt und verfügt damit über große Legitimität bei Landwirtschaftsverhandlungen. Das wirtschaftliche Gewicht und der gewaltige Binnenmarkt Chinas garantieren auch, dass die G-20 von Washington und Brüssel ernst genommen wird. Vor allem war die Unterstützung Indiens durch China ein wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der Gruppe, jedoch nicht, weil andere Entwicklungsländer die Positionen Neu-Delhis nicht teilten: die meisten versuchen, ihren Landwirtschaftssektor zu verteidigen. Viele waren politisch einfach zu schwach, um dem Druck der USA und der EU standzuhalten.
Aber China wird – wie alle Staaten – die Interessen der Entwicklungsländer nur verteidigen, sofern sie mit den eigenen Interessen übereinstimmen. 2003 unterzeichnete Thailand mit China ein Abkommen über die Aufhebung aller Handelsschranken für Obst und Gemüse. Sechs Monate danach klagten thailändische BäuerInnen, sie könnten nicht mit chinesischen Importprodukten konkurrieren; Exporteure wiederum warfen China vor, durch Verzögerungen an der Grenze und Lebensmittelsicherheitskontrollen den Zugang ihrer Produkte zum chinesischen Markt zu behindern. Insofern unterscheidet sich die Handelspolitik Chinas nicht von jener der USA und der EU, die WTO-Regeln und ihr wirtschaftliches Gewicht benutzen, um das Beste für sich herauszuholen.
Offiziell leugnet China sämtliche Ambitionen auf Hegemonie oder eine weltweite Führungsrolle; ebenso wird die „Führung durch ein Land“ abgelehnt: Als Grundfeste der Außenpolitik des Landes werden gegenseitiger Respekt, Souveränität und zwischenstaatliche Zusammenarbeit genannt, was klar gegen die Rolle der USA gerichtet ist. Wirtschaftlich und politisch positioniert sich das Land jedoch als die aufsteigende Macht des 21. Jahrhunderts.
Auch wenn China mit vielen Ländern in Ost- und Südostasien ökonomisch konkurriert, übernimmt Beijing eine Führungsrolle in den Bereichen Handel und Sicherheit. Dabei ist von Vorteil, dass asiatische Länder keinen Grund haben, Lektionen Chinas in Sachen politischer Rechte und Freiheiten zu befürchten. China hat etwa ein asiatisches Freihandelsabkommen („ASEAN + 3“) unterstützt, eine langfristige Strategie zum Aufbau eines regionalen Handelsblocks, der eines Tages ein Gegengewicht zur Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) oder zur EU darstellen könnte. Auf diplomatischer Ebene spielt China auch eine wichtige Rolle bei den Sechs-Parteien-Gesprächen über eine Lösung der Nuklearwaffenfrage in Nordkorea (mit den USA, Südkorea, Russland und Japan) und als Vermittler zwischen seinem traditionellen Rivalen Indien und seinem traditionellen Bündnispartner Pakistan.
Zweifellos geht China davon aus, dass regionale Stabilität seinen Interessen eher dient als das Punktesammeln bei ideologischen Scharmützeln.
Sein Engagement auf internationaler Ebene geht heute über die Sphären des UN-Sicherheitsrates, der WTO und der UNO hinaus. Im April 2004 beantragte China die Mitgliedschaft in der Nucelar Suppliers Group (NSG), der Gruppe der wichtigsten nuklearen Lieferländer, und nahm erstmals an einem Treffen des Trägertechnologie-Kontrollregimes (Missile Technology Control Regime – MTCR) teil, zwei Foren, die Beijing bisher als US-beherrschte Kartelle zur Kontrolle des Zugangs zur Kerntechnik abgetan hatte. Durch die Mitwirkung an diesen beiden Gruppen stärkt China seine Beziehungen zu den USA, der EU und Japan und stellt gleichzeitig seinen Zugang zur modernsten Kernenergietechnik sicher.
China setzte auch Einiges in Bewegung, um eine Vizepräsidentschaft in der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu sichern – was von GewerkschafterInnen mit Spott bedacht wurde: Das Motiv sei bloß, die Debatte über internationale arbeitsrechtliche Standards zu kontrollieren und gleichzeitig von den Arbeitsbedingungen im eigenen Land abzulenken.
Bisher wurde in dieser Hinsicht kaum Druck auf Beijing ausgeübt, und auch sonst will niemand China zu Zugeständnissen im Handel und im Finanzsektor drängen, die das weitere Wachstum des Landes in Frage stellen könnten. Trotzdem wird China aber im Rahmen der WTO zu einer weiteren Liberalisierung seines Handelsregimes gezwungen sein. Für einige kritische Stimmen in China ist die WTO-Mitgliedschaft eine schleichende Katastrophe. Prognosen einer Krise in der Landwirtschaft und eines Niedergangs der chinesischen Industrie sind Gegenstand öffentlicher Debatten.
Dessen ungeachtet hat die Regierung ihren auf internationale Legitimität ausgerichteten Kurs bisher konsequent weiter verfolgt. Die Risiken sind jedoch nicht zu unterschätzen. In den letzten fünf Jahren wuchs die Wirtschaft zwar mit jährlich neun Prozent, doch gibt es Anzeichen einer Abschwächung der Konjunktur. Die Regierung hat vor einem „Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung“ gewarnt, falls das Wachstum unter sieben Prozent fallen sollte. Die Lage der „ländlichen Massen“, Symbol der chinesischen Revolution, ist kritisch (siehe Artikel 41). Tatsächlich steht China heute am Rande einer sozialen Katastrophe: Der KPCh muss ein Drahtseilakt zwischen ihrer Umarmung von Kapitalismus und privaten Eigentumsrechten und der ländlichen Armut, Massenarbeitslosigkeit und wachsender Unzufriedenheit im eigenen Hinterland gelingen. Das weiß nicht nur die Regierung in Beijing, sondern die ganze Welt.
Bisher ist die einzige Stimme Chinas auf internationaler Ebene die der Staatsführung. Dass die rasche wirtschaftliche Transformation die Gesellschaft spaltet und Opposition hervorruft, ist jedoch offensichtlich. Wichtige Dinge passieren in China, über die weder von der KPCh noch von Wirtschaftsmedien berichtet wird. Die Bedingungen für das Heranwachsen einer demokratischen Bewegung sind vielleicht nicht gegeben, doch in der neuen Ära der Internationalisierung der Anti-Kriegs- und Anti-Globalisierungsbewegung sind es die chinesischen ArbeiterInnen und BäuerInnen, deren Stimmen noch gehört werden müssen.
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