Wie die Entwicklungs-Fachleute eines reichen Landes zu weißen Haaren kamen.
Es war einmal ein glückliches Land, ein reiches Land, eines der reichsten Länder der Erde. Mit Menschen, die ihr Herz offen hatten für die Not und das Elend in den anderen Gegenden des Planeten. Die immer wieder viel spendeten, wenn irgendwo eine Katastrophe die Menschen ins Unglück stürzte.
Und Katastrophen gab es genügend auf dieser Welt, von der Natur hervorgerufene und solche, die die Menschen selbst inszeniert hatten, die Kriege, die Genozide, die Vertreibungen ganzer Völker.
Die verheerende Flutwelle, die die Küstenregionen Südasiens verwüstete, gehört wohl in die erste Kategorie der Katastrophen. Und die Menschen in dem reichen Land zeigten ihr Mitgefühl, indem sie ihre Geldtaschen weit öffneten, um den Millionen Betroffenen, die ihre Angehörigen, ihr Haus, ihre Arbeitsmöglichkeit verloren hatten, zu helfen. Geld für die Katastrophenopfer war nunmehr reichlich vorhanden. Erste Hilfsmaßnahmen waren das Gebot der Stunde, und in weiterer Folge Maßnahmen für den Wiederaufbau der zerstörten Regionen, für den Bau neuer Wohnräume, für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Für Maßnahmen, um eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung der betroffenen Gebiete zu gewährleisten, Maßnahmen also, für die die so genannte Entwicklungshilfe in einem jahrzehntelangen Lernprozess das entsprechende Know-how angesammelt hatte.
Erstmals lag es nicht an den fehlenden Mitteln, um solche Maßnahmen auszuführen. Aus privaten Sammelaktionen und von Städten und Gemeinden kamen viele Millionen zusammen, selbst der sonst gegenüber der so genannten Dritten Welt eher knausrige Bund stellte fast 50 Millionen zur Verfügung. Und da kam auch die Idee auf, diese immense Spendenbereitschaft steuerlich zu begünstigen. Doch dem Oberkassier dieses reichen Landes gefiel dieser Vorschlag überhaupt nicht. Im Nu präsentierte er der Öffentlichkeit die Zahl von 100 Millionen, die diese in anderen Ländern längst etablierte Maßnahme dem heimischen Fiskus kosten würde. Bewundernswert, wie schnell die Fachleute seines Ressorts diesen Betrag ausgerechnet hatten. Ob sie dabei wohl berücksichtigten, dass Hunderttausende von Pensionistinnen und Rentnern, die 20 oder 30 Euro auf eines der vielen Spendenkontos eingezahlt hatten, diese Summe nie von ihrer Steuer absetzen werden?
Und dann erhob sich die Frage, wie man nun das viele Geld in den Wiederaufbau der zerstörten Küstenstriche investieren sollte. Genau für solche Aufgaben hatte der Staat kürzlich eine eigene Agentur gegründet, eine Entwicklungs-Agentur, in der die Fachleute für humanitäre Hilfsmaßnahmen und nachhaltige Wiederaufbau-Programme sitzen. Diese Fachleute mussten nun tatenlos zusehen, wie die Firmen aus dem reichen Land nach ihren alpenlanderprobten Konzepten Dörfer für die armen Obdachlosen errichteten, wie ausländische Betriebe, für deren Profit die armen Einheimischen geschuftet hatten, neue Fabrikshallen bekamen und die internationalen Touristikunternehmen für ihre Verluste entschädigt wurden. Und die Entwicklungs-Fachleute des reichen Landes, die schon viele Konzepte über Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit geschrieben hatten, bekamen weiße Haare – und sie träumen heute immer noch davon, welche Projekte sie mit dem vielen Geld verwirklicht hätten.