Jeder Bürger ein Reporter

Von Sven Hansen · · 2003/12

Südkoreas Internet-Zeitung OhmyNews macht 26.000 ihrer LeserInnen zu ReporterInnen und mischt mit dieser journalistischen Guerillataktik Medien und Politik auf.

Das kleine Büro im fünften Stock eines Hochhauses im Zentrum der südkoreanischen Hauptstadt wirkt so profan wie das einer beliebigen kleinen Firma. Doch von diesen schlichten Räumen aus wurde im Dezember 2002 Südkoreas Präsidentschaftswahl zugunsten des linksliberalen Roh Moo-hyung entschieden. Rohs Wahlsieg führt der Gründer der hier ansässigen Internet-Zeitung OhmyNews, Oh Yeon-ho, jedoch weniger auf den Einfluss seines Webportals zurück als vielmehr auf den des Internets insgesamt. Er räumt allerdings ein, dass OhmyNews Südkoreas erfolgreichste mediale Verbindung von modernster Technologie und zivilem Engagement ist.
OhmyNews brach mittels Tausender BürgerreporterInnen das Monopol von Südkoreas konservativen Mainstream-Medien. Die waren gegen Roh und marginalisierten ihn in ihren Berichten. OhmyNews dagegen nahm wahr, dass die Stimmung zugunsten Rohs umzuschlagen begann, und berichtete ausführlich. Das wiederum nutzte Roh, der schließlich gewählt wurde.
Zuvor hatte OhmyNews ausführlich über den Tod zweier Schülerinnen berichtet, die von einem US-Militärfahrzeug überfahren worden waren, dessen Fahrer nicht vor Gericht musste. Dies führte zu Demonstrationen gegen die US-Truppen in Südkorea. OhmyNews-Berichte lösten dann eine landesweite Protestbewegung aus.

„Unsere Stärke ist die Kooperation zwischen unseren fest angestellten Redakteuren und den so genannten Bürgerreportern,“ sagt Oh, der auch Geschäftsführer von OhmyNews ist. Seine drei Jahre alte Netzzeitung hat inzwischen 30 feste Redakteurinnen und Redakteure und über 26.000 BürgerreporterInnen. Das sind als freie MitarbeiterInnen rekrutierte LeserInnen. „Die berichten nicht nur, sondern sind auch wichtige Informanten“, erklärt Oh. Die täglichen Zugriffe auf ohmynews.com gibt er mit 15 Millionen an. Während des Wahlkampfes waren es gar 19,7 Millionen – bei einer Bevölkerung von 48,5 Millionen.
Der heute 39-jährige Oh schrieb während der Militärdiktatur in den 1980er Jahren für Untergrundmagazine. Später arbeitete er für Mainstream-Medien und stieß sich an deren Rechtslastigkeit. In den USA studierte Oh dann ausgerechnet an der christlichen Regent Universität in Virginia Beach. Deren Präsident ist der erzkonservative evangelikale Prediger Pat Robertson. „Sie sind dort sehr rechts und wollen das, was sie das liberale Medienestablishment nennen, stürzen. Ich wollte das rechte Medienestablishment stürzen und habe viel von ihnen gelernt“, sagt Oh schmunzelnd.

Mit seiner Form des Journalismus, die er als Guerilla-Taktik bezeichnet, nahm Oh den Kampf gegen die drei großen konservativen Blätter Chosun Ilbo, Joong-Ang Ilbo und Dong-A Ilbo auf. Sie stellen zwei Drittel von Südkoreas Zeitungsauflage. „Unser Konzept ist, dass alle partizipieren können“, erklärt Oh. Ihm kam zugute, dass Südkorea das wohl am meisten mit Hightech vernetzte Land der Welt ist. 70 Prozent der Haushalte haben einen Breitbandanschluss, der Netzzugriffe mit Hochgeschwindigkeit ermöglicht. Unter jungen KoreanerInnen ist das Internet inzwischen die Hauptinformationsquelle. OhmyNews-LeserInnen und -AutorInnen sind denn auch zu 80 Prozent zwischen 20 und 30 Jahre alt und zu 75 Prozent männlich.
Der Ansatz von OhmyNews ist vergleichbar mit dem des globalen AktivistInnenportals indymedia.org. Dieses lässt sich mit „jeder Aktivist ein Journalist“ charakterisieren und ist vor allem bei WTO-, IWF- und G-8-Gipfeln eine wichtige Informationsquelle über die Proteste. Indymedia ist bei OhmyNews unbekannt. Dafür schafften die KoreanerInnen den Sprung vom AktivistInnenghetto in die linksliberale Mitte der Gesellschaft, die mit dem fortschreitenden Generationenwechsel mehrheitsfähig wurde.

Von OhmyNews’ täglich 200 Artikeln stammen 170 von den BürgerreporterInnen. Diese erhalten bei einer Veröffentlichung auf der Titelseite umgerechnet 15 Euro pro Text, und die Hälfte für Texte anderswo. Wie sichert OhmyNews die Seriosität der Informationen? Laut Oh überprüfen die festen MitarbeiterInnen die Fakten vor der Veröffentlichung. „Geht das nicht, versuchen wir die Glaubwürdigkeit der AutorInnen zu überprüfen, mit denen wir uns manchmal sogar treffen“, sagt Oh. In drei Jahren hätten erst zwei Artikel von BürgerreporterInnen zu Gerichtsprozessen geführt.
Chefredakteur Jeong Woon-hyon, ein Journalist mit fast zwei Jahrzehnten Berufserfahrung, ist selbstkritischer: „Ein Viertel der Texte ist schlecht. Die werden von uns nicht bearbeitet, aber mit der Bemerkung ins Netz gestellt, dass wir die Haftung dafür ablehnen. Die liegt allein beim Autor. Viele dieser Texte haben einen verleumderischen Ton.“
Wie bei Indymedia sind auch bei OhmyNews die LeserInnen ein wichtiges Korrektiv. Am Ende jedes Textes werden deren Kommentare veröffentlicht. Zugleich werden die Leser aufgefordert, für Artikel, die sie gut finden, zu spenden. Bezahlt wird per Handy. 40% geht an den Autor/die Autorin, 60% kommt in einen Fonds für den/die „BürgerreporterIn des Monats“.
Laut Jeong machte OhmyNews im vergangenen Jahr erstmals einen kleinen Profit. 80 Prozent der Einnahmen kommen aus Werbung. Dabei haben in Südkorea die großen Firmen-Konglomerate, die Chaebol, keine Berührungsängste mit Medien wie OhmyNews, schließlich gelten die als modern. Und umgekehrt haben auch progressive Medien keine Berührungsängste mit den Konzernen, an denen in Südkorea kein Weg vorbei führt.
„Etwa die Hälfte unserer Werbeeinahmen kommt von den Chaebol,“ sagt Jeong. Weitere Einnahmen erzielt OhmyNews durch SMS- und Internetdienste. Auch verdienen die RedakteurInnen Geld mit dreitägigen Kursen für journalistisches Schreiben, in denen sie gegen eine Gebühr von umgerechnet 115 Euro ihre eigenen BürgerreporterInnen ausbilden.

Unter JournalistInnen habe OhmyNews keinen seriösen Ruf, meint Ryuh Kwon-ha, Redakteur und künftiger Deutschland-Korrespondent der konservativen Jong-Ang Ilbo. OhmyNews könne leicht manipuliert werden. Er nutze die Netzzeitung aber als Ideenspender. Ihre Qualität sei, dass die BürgerreporterInnen die Gesellschaft lebendig und vielfältig widerspiegelten. Auch Han Seung-dong von der linksliberalen Tageszeitung Hankyoreh und Ohs Kollege aus Untergrundzeiten, findet OhmyNews‘ Standard nicht sehr hoch: „Dafür bricht OhmyNews Tabus und veröffentlicht alle Informationen, die sie zu einer Sache bekommen können, auch wenn sie sie nicht immer überprüfen können.“
Hankyoreh wurde 1988 gegründet und ist mit 400.000 Auflage bei 60.000 AnteilseignerInnen Südkoreas Version der deutschen taz (die tageszeitung) oder der Schweizer WoZ (Wochenzeitung). Lange war Hankyoreh das einzige Gegengewicht zum konservativen Mainstream.
Laut OhmyNews-Gründer Oh ist seine Netzzeitung noch nicht so einflussreich wie Hankyoreh, werde von den großen Medien inzwischen aber oft zitiert. Auch reklamiert er einige Highlights für OhmyNews wie die Enthüllung, dass der Hyundai-Konzern einige hundert Millionen Dollar an Nordkorea zahlte, bevor es im Juni 2000 zum historischen innerkoreanischen Gipfeltreffen in Pjöngjang kam. OhmyNews habe auch dazu beigetragen, das Verhältnis der Regierenden zu den Medien transparenter zu machen. So seien jetzt auch Onlinemedien zu den Pressekonferenzen der Ministerien zugelassen. Präsident Roh gewährte OhmyNews das erste Interview nach seiner Amtsübernahme.
Inzwischen erscheint OhmyNews in Seoul auch in Form einer kostenlosen gedruckten Wochenzeitung. Das Blatt mit 150.000 Auflage veröffentlicht die besten Texte der Webseite. Der Name des Blattes ist ebenfalls OhmyNews. Hat der eigentlich etwas mit dem Namen von Gründer Oh zu tun? Nein, sagt dieser.
OhmyNews sei eine Anspielung auf den Ausruf „Oh my god“. Der sei das Markenzeichen eines bekannten Kabarettisten zur Zeit der Gründung der Netzzeitung gewesen. „Das Erstaunen ausdrückende Wort Oh sagt man, wenn man etwas mit Nachrichtenwert erfährt und davon ergriffen ist“, so Oh.

Der Autor ist Asien-Pazifik-Redakteur der tageszeitung in Berlin. Er besuchte kürzlich Südkorea. 1999 und 2000 war er Kolumnist der südkoreanischen Tageszeitung Hankyoreh und des Politmagazins Hankyoreh 21.

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