Welche frühen Ziele hatten Sie?
Auf meiner ganz persönlichen Ebene war da einmal der Kinderwunsch, den ich von klein auf hatte. Es gab viele Schwierigkeiten, aber ich habe heute eine große Familie.
Die eigenen Kinder sind Ihnen sehr wichtig. Warum? Weil Sie die Gemeinschaft der Familie brauchen? Oder ist Ihnen auch wichtig für ein geglücktes Leben, dass etwas von Ihnen in dieser Welt bleibt?
So pathetisch würde ich das nicht sagen. Bis heute berühren mich die Kinder, besonders meine Enkel- und Urenkelkinder. Für die könnte ich alles tun. Ich liebe sie. So eine kleine Hand zu halten, das löst so viele Emotionen aus. Es gibt aber auch viele schmerzliche Seiten, viele Ängste.
Was auch noch sehr wichtig ist, dass ich mit meinem Mann in einer so guten Beziehung leben darf. Das Gemeinsame macht das Leben einfach schön. Für eine Beziehung muss man schon was tun, aber es ist auch viel Glück dabei, wenn sie gelingt.
Geglücktes Leben nur in der Gemeinschaft mit anderen?
Für mich persönlich ja. Anderen kann vielleicht eine völlig andere Lebensform ein reiches Leben bringen. Für mich war gerade auch das Zusammenleben mit Menschen in und aus anderen Kulturen eine große Bereicherung. Durch meinen Entschluss, in jungen Jahren nach Lateinamerika zu gehen, bereits mit vier Kindern, habe ich die Möglichkeit bekommen, unendlich viel zu lernen.
Dem Leben diese Wendung zu geben war damals nicht selbstverständlich. Wie ist es dazu gekommen?
Es gibt ein Schlüsselerlebnis in meiner Kindheit. Ich war mit viel Rassismus konfrontiert. Der hat mir schon damals weh getan. Ich hatte das Gefühl, da stimmt was nicht. Mit 13 Jahren habe ich im Stift Melk einen alten Priester gehört, der mit viel Liebe vom Feuerland und von den Menschen dort erzählte. Das hat mich sehr beeindruckt. Und da entstand schon der Wunsch, einmal über das hinaus zu gehen, was ich kenne.
Nach dem Einsatz in Bolivien kam jener in Chile. Dort ist dann aber doch viel daneben gegangen, auch in der Verwirklichung Ihres Lebenstraumes, langfristig in Chile zu bleiben. Würden Sie diese Phase als gescheitert, misslungen oder trotzdem als geglückt ansehen?
Geglückt war die Möglichkeit, sich vor dem Putsch in eine Welle von Hoffnung und Aufbauwillen einzubringen. Das Ende war tragisch, und wir mussten Chile verlassen. Chilenische Flüchtlinge kamen auch nach Österreich. Die Solidarität für Chile, gemeinsam mit den Flüchtlingen, war die Möglichkeit, an die Vergangenheit in Chile anzuknüpfen, so ist nicht alles abgerissen.
War Chile besonders prägend für Sie und Ihr Leben?
Wir waren dann auch in der Nicaragua-Solidarität aktiv, zwei Kinder haben dort mehrere Jahre gearbeitet. Doch die große Liebe ist Chile geblieben. Auch in Bolivien haben wir sehr viel Solidarität und Hilfsbereitschaft erfahren. Es war auch viel Schweres dabei – die Kinder waren oft krank, der kleine Hermann hatte Typhus und kein Medikament war da. Ich habe Todesängste ausgestanden. Aber ich habe mich immer privilegiert gefühlt, durch die Art, wie die Leute mit uns umgegangen sind.
Ich höre bei Ihnen sehr stark heraus, wie wichtig die Menschen waren, die Ihnen begegnet sind. Trotz schwerer Zeiten und Ängsten.
Unverdienterweise habe ich immer wieder große Unterstützung erfahren. Als ich mich dann mit der Geschichte Lateinamerikas beschäftigt habe, war es mir noch unverständlicher, dass die Menschen uns als Weiße von Anfang an angenommen haben und uns vertrauten. Aus dem habe ich gelernt, dass es sehr wichtig ist, anderen Menschen ein positives Vorurteil entgegen zu bringen.
Wie weit sind für ein geglücktes Leben religiöse oder politische Überzeugungen ausschlaggebend?
Ich denke, sie spielen schon eine Rolle. Für mich war es wichtig, dass Dinge, die mir schon als Heranwachsende bewusst geworden sind, sich entwickeln konnten. Meine religiöse Motivation hat sich dann in eine politische gewandelt. Wichtig ist mir das soziale Engagement und der Abbau von rassistischen Vorurteilen. Und heute möchte ich daran glauben können, dass junge Menschen diesen Weg weiter gehen.
Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich speziell für Frauen engagiert haben?
Meine Erfahrung war, dass alle Projekte Männern oder Buben zugute kamen, das habe ich als sehr ungerecht empfunden. Die Frauen haben so viel Verantwortung und Arbeit. Sie kämpfen auch um ihre Rechte, aber sie werden zu wenig unterstützt. Ich habe viel Überlebenswichtiges von ihnen gelernt: wie man unter einfachsten Bedingungen lebt, mit Krankheiten umgeht oder zu Trinkwasser kommt.
Was mir auffällt, Sie haben sich bis heute eine große Empfindungsfähigkeit bewahrt. Sie leiden mit, Sie freuen sich mit. Gehört das zu einem reichen Leben dazu: lebendig zu bleiben, nicht abzustumpfen?
Das würde ich auch sagen. Es ist schön, wenn man die Möglichkeit zu lieben, mitzuleiden, sich mitzufreuen bewahren kann.
Wie schafft man das?
Üben. Mit Menschen in Kontakt sein. Andere ernst nehmen. Was mir wichtig ist bis heute: von vornherein nicht das Schlechte zu erwarten. Was aber sehr schmerzlich ist: immer wieder zu erkennen, dass man trotz aller Bereitschaft vieles nicht verändern kann. Das gilt für den politischen Bereich, für die Arbeit, aber auch innerhalb der Familie. Es kann nicht alles glücken.
Sie haben viel mit armen Menschen zu tun gehabt, mit ihnen gelebt in Lateinamerika. Kann ein rundum entbehrungsreiches Leben auch glücken?
Das glaube ich schon. Was das geglückte Leben ausmacht, hängt schließlich nicht von den materiellen Dingen ab. Eine Grundversorgung ist natürlich wichtig. Doch ich finde, dass Frauen, die mit ihrer ganzen Kraft für das Überleben ihrer Familie kämpfen, ein geglücktes Leben haben, obwohl sie viel Unglück und Entbehrung erleben müssen. Solche Frauen können uns allen als Aufforderung zur Bescheidenheit dienen für das, was man von einem geglückten Leben erwarten sollte. Ich finde es sehr berührend, wenn ich Leute sehe, die um das Notwendigste kämpfen müssen, aber das Leben umarmen.
Sigrun Berger, 1934 in Krems geboren, hat in der Kunsttischlerei ihres Vaters gelernt und besuchte die Fachschule für Bildhauerei. Mit 20 Jahren hat sie geheiratet.
1964 ging Sigrun Berger mit ihrem ersten Mann und vier Kindern als „Mitreisende Ehefrau – MEF“ auf einen dreijährigen Entwicklungseinsatz nach Bolivien.
Danach kam die Arbeit in Chile, in einem Land, in dem viele engagierte Menschen einen hoffnungsvollen politischen Aufbau hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit sahen. Nach drei Jahren kam die Familie nach Österreich zurück, verkaufte und verschenkte hier alle bescheidenen Güter und wanderte nach Chile aus. Doch 1973, nach nur einem Jahr, kam der Militärputsch, der alle Hoffnungen auf eine gerechte, friedliche Entwicklung in Chile zerstörte. Die Familie – inzwischen mit sieben Kindern – musste flüchten und in Österreich neu beginnen.
Viele Chilenen gingen ebenfalls nach Österreich ins Exil. Seit damals sind Sigrun und ihr zweiter Mann Herbert Berger in der Chile-Solidarität engagiert, neben vielen anderen Aktivitäten in der Entwicklungspolitik. So ist Sigrun Berger Mitbegründerin des Vereins Frauensolidarität, weil die persönliche Erfahrung ihr gezeigt hat, dass Entwicklungszusammenarbeit die Frauen benachteiligt, wenn sie nicht ganz bewusst Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau im Auge hat.
Sigrun Berger hat vierzehn Enkel- und zwei Urenkelkinder.
Soeben ist von Sigrun und Herbert Berger (Hg.) ein Buch erschienen: Zerstörte Hoffnung. Gerettetes Leben. Chilenische Flüchtlinge und Österreich. Siehe Rezension Seite 40.
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