Beziehungskrise

Von Tobias Zuser · · 2020/Jan-Feb

Durch die Massenproteste in Hongkong sowie Pekings Reaktion ist die Zukunft der chinesischen Sonderverwaltungszone ungewisser denn je.

Von Tobias Zuser, Hongkong

Seit dem 9. Juni 2019, als etwa eine Million Menschen auf die Straßen gingen, hat sich in Hongkong so einiges geändert: statt stets polierter Glasfassaden, sauberer Straßen und blitzblanker Einkaufszentren prägen immer mehr Graffitis, Straßenbarrieren, gesperrte U-Bahn-Stationen und Gehsteige ohne Pflastersteine das Bild. Wegen der seit Monaten andauernden Proteste bleiben die TouristInnen aus, viele Geschäfte kämpfen bereits ums Überleben.

Zwei Sichtweisen prägen die internationale Berichterstattung: Westliche Medien fokussieren auf die demokratischen Forderungen der Menschen in Hongkong und die Reaktion der chinesischen Staatsführung, die über die Zeit repressiver wurde. Chinesische oder auch russische Medien zeigen stattdessen Chaos, Anarchie sowie westliche Mächte, allen voran die USA, in einer aktiven Rolle auf der Seite der Protestbewegung.

Tatsache ist: Die Zukunft der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong, deren Staatshoheit 1997 nach 156 Jahren britischer Kolonialherrschaft an die Volksrepublik China übergeben wurde, ist derzeit ungewiss.

Damals, vor 23 Jahren, behielt Hongkong sein demokratisch-marktwirtschaftliches Systems und weitreichende innere Autonomie. Der Plan Chinas, Hongkong nach dem Motto „Ein Land, zwei Systeme“ erst 50 Jahre nach der Übernahme komplett zu integrieren, könnte nun zu einer schwierigen Mission werden.

Hongkong

Fläche: 1.106 km2 (etwa drei Mal so groß wie Wien)

EinwohnerInnen: 7.392.000 (2017)

Human Development Index (HDI): Rang 4 von 189 (Österreich 20)

Gini-Koeffizient (Einkommensungleichheit): 53,9 (2016)  (Österreich 27,9)

BIP pro Kopf: 64.596 US-Dollar (Schätzung 2018, Österreich 51.462 US-Dollar)

Regierungssystem: Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China mit weitreichender Autonomie. Regierungschefin ist seit 1. Juli 2017 Carrie Lam. Sie ist parteilos, aber ihre Kandidatur wurde von Peking vorab autorisiert.

Starke Stimmen. Die Hongkonger Zivilgesellschaft weiß sich zu artikulieren. 1967 gingen etwa, angestachelt von pro-kommunistischen Verbänden für bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken, ArbeiterInnen auf die Straße. Das harte Durchgreifen der Polizei machte daraus schnell eine anti-koloniale Bewegung, die fast acht Monate andauerte und bei deren Protesten mehr als 50 Menschen umkamen.

Im Jahr 2003 wiederum machten sich bis zu einer Million Menschen gegen eine Verschärfung von Gesetzen zur nationalen Sicherheit stark. Zuletzt hat 2014 die sogenannte Regenschirmbewegung weltweit für Aufsehen gesorgt, als DemonstrantInnen die Hauptverkehrsadern der Stadt lahm legten, um friedlich für direkte Regierungswahlen zu protestieren.

Der oder die sogenannte „Chief Executive“, also RegierungschefIn – derzeit Carrie Lam –, wird bis heute von einem nur 1.200 Personen starken Komitee bestimmt (bei einer EinwohnerInnenzahl von rd. 7,4 Mio.). Lam genießt nach wie vor die volle Unterstützung der chinesischen Zentralregierung in Peking, der sie regelmäßig zum Rapport verpflichtet ist.

Der Ausgangspunkt. Demokratiepolitische sowie soziale Themen wurden in den Anliegen der Protestbewegung immer zentraler. Angefangen hat alles mit einem Gesetzesvorschlag vom Frühjahr 2019, den zuerst viele als durchaus legitim sahen: 2018 hatte ein junger Mann aus Hongkong seine Freundin während eines gemeinsamen Urlaubes in Taiwan ermordet. Es gelang ihm in die Heimat zurückzukehren, bevor die taiwanesischen Behörden seiner habhaft wurden.

In Hongkong konnte dem Beschuldigten nicht der Prozess gemacht werden. Wegen eines fehlenden Auslieferungsabkommens mit Taiwan gab es auch keine Möglichkeit, ihn an die dort zuständigen Behörden zu überstellen.

Regierungschefin Lam wollte daraufhin ein Gesetz über ein Schnellverfahren zur Auslieferung durch das Parlament bringen. Doch aufgrund der von China beanspruchten Hoheitsgewalt über den Inselstaat Taiwan würde das neue Gesetz sowohl für Taiwan als auch für Festland-China gelten.

Dass eine politische Rechtsprechung Chinas, nach der z.B. DissidentInnen straffrechtlich verfolgt werden, daher auch nach Hongkong übergreifen könnte, wurde in Folge zu einem Hauptthema in den Hongkonger Medien. Und führte zu den ersten Protesten am 9. Juni.

Obwohl die Regierung in Hongkong am 15. Juni ein vorläufiges Aussetzen des Vorhabens verlautbarte, gingen nur einen Tag später laut Medienberichten doppelt so viele wie am ersten Protesttag auf die Straße, zwei Millionen BürgerInnen – fast 30 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Anliegen Demokratie. Das Auslieferungsgesetz wurde im Oktober letztendlich formell zurückgezogen, aber den Protestierenden ging es mittlerweile um mehr: Sie fordern nicht zuletzt die Umsetzung der Demokratiereform, die bereits in der Verfassung verankert ist und eine direkte Wahl der oder des „Chief Executive“ garantieren sollte. Zudem wollen die DemonstrantInnen eine unabhängige Untersuchungskommission zu Polizeigewalt. Das Verhalten der Exekutive als Reaktion auf die Proteste wurde in vielerlei Hinsicht als unverhältnismäßig und brutal kritisiert.

Und es werden im Rahmen der Protest tiefergehende soziale Missstände angesprochen: Hongkong wird regelmäßig als einer der sozial und ökonomisch ungerechtesten Orte der Welt ausgewiesen (vgl. auch Gini-Koeffizient in der Factbox).

Gleichzeitig leben rund 20 Prozent der Hongkonger Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, das heißt, sie verdienen zwischen 400 und 500 Euro, weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns.

Auch sieben Monate nach dem Beginn waren die Proteste, zumindest bis Redaktionsschluss, nicht eingeschlafen. Die Bewegung gilt bisweilen zudem als „führungslos“, der wohl größte Unterschied zur Regenschirmbewegung vor fünf Jahren. Damals erhielten etliche StudierendenvertreterInnen Haftstrafen.

Viele Entscheidungen werden demokratisch über verschlüsselte Online-Plattformen gefällt, was es den Behörden erschwert, illegale Aktivitäten und unangemeldete Proteste zu unterbinden.

Zudem kam es zu einem allgemeinen Aufruf von DemonstrantInnen, den Gewerkschaften beizutreten, um in der Zukunft noch größere Streiks organisieren zu können. Dieser Versuch der Mobilisierung hat sich allerdings als äußert schwierig erwiesen. Zu hoch ist der monatliche finanzielle Druck für DurchschnittsbürgerInnen, und zu klein der Einfluss der ArbeiterInnenvertretungen.

Ein Aufeinanderzugehen der Protestbewegung und der Stadtregierung ist derzeit jedenfalls nicht in Sicht. Seit dem einzigen öffentlichen Dialog Ende September, der sowohl im Radio als auch im Fernsehen übertragen wurde, gab es keine weiteren Gespräche zwischen den beiden Lagern.

Die Strategie Pekings, die Protestbewegung so wie 2014 auszusitzen, scheint dieses Mal nicht aufzugehen, zumindest bisher.

Tobias Zuser lebt seit 2012 in Hongkong und ist Unversitätslektor für Kultur- und Sozialwissenschaften. Er betreibt eine Website zu Fußball in Hongkong.

Das Dossier der nächsten Ausgabe, Südwind-Magazin 3-4/2020, widmet sich China, seiner wirtschaftlichen Macht und der aktuellen Situation von chinesischen ArbeiterInnen.

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