Die altgedienten Machthaber wurden im Sommer abgewählt. Im Dezember tritt der „Neue“ an: Präsident Fox, der allen viel versprochen hat.
„Ich werde Mexiko nach den Leitlinien regieren, die ich bei Coca-Cola gelernt habe“, bekennt der Neue freimütig, der vor seiner Politkarriere bei der rechtsliberalen Partei der Nationalen Aktion (PAN) viele Jahre bei dem US-Konzern gearbeitet hatte. Das ist keine blosse Metapher: Monatelang waren ein halbes Dutzend Headhunter-Firmen damit beschäftigt, das Land nach geeigneten Führungskräften abzusuchen. Zwar hatten auch die PRI-Regierungen seit Mitte der Achtziger die Wirtschaft radikal liberalisiert, doch hielten diese an der Rhetorik aus der Revolutionszeit fest.
In der Logik des neuen Business-Paradigmas werden BürgerInnen endgültig zu „Kunden“, Politik zu einer Dienstleistung, an die Stelle von Revolutionsrhetorik tritt modernes Marketing. Seilschaften und Parteibürokratie sollen durch „Qualitätskontrollen“ und betriebswirtschaftliches Know-How ausgebootet werden.
Wirtschaftspolitisch bedeutet das Fox’sche Programm, trotz aller Wende-Rhetorik, zunächst einmal Business as usual: der Freihandel „in alle vier Himmelsrichtungen“ soll ausgebaut und die Inflation reduziert werden, der Staat soll schrittweise immer weniger ausgeben und Private dafür mehr investieren. Zwar will Fox die öffentlichen Investitionen in den „Faktor Humankapital“ erhöhen, doch auch für die künftige Bildungspolitik – so sein Bildungsbeauftragter Rafael Rangel Sostman, bis dato Leiter einer renommierten Privatuniversität – gilt der Primat der „Wettbewerbsfähigkeit“.
Die Löhne, die seit fast zwanzig Jahren kontinuierlich an Kaufkraft verloren haben, sollen wieder steigen dürfen – allerdings nur „im Rahmen der Produktivitätsentwicklung“.
Für viele seiner Initiativen braucht Fox allerdings die Zustimmung des Kongresses. Genau das aber könnte schwierig werden. Denn im neuen Parlament hat keine der drei grossen Parteien – PRI, PAN sowie die linkssozialdemokratische Partei der Demokratischen Revolution (PRD) – eine Mehrheit. Und vor allem die ehemalige Staatspartei, mit 211 von 500 Kongressmandaten und 60 von 128 Senatorenposten noch immer stärkste Fraktion in beiden Kammern, besinnt sich neuerdings auf ihre „revolutionäre“ Herkunft und kritisiert die „unsozialen“ Pläne der neuen Regierung.
Als „erste Priorität“ hat der Konservative zudem die Armutsbekämpfung genannt. Denn hinter den allseits gelobten Makro-Daten der scheidenden Regierung – boomende Exporte, ein Wirtschaftswachstum von 7,8% im ersten Halbjahr, Inflation von unter 10%, ein stabiler Peso, und ein solider Dollarpolster von 28 Milliarden – verbirgt sich eine verheerende Sozialbilanz. So ist unter Präsident Ernesto Zedillo die Zahl der „extrem Armen“ von 24 noch auf 27 Millionen angewachsen. Laut UNO leben insgesamt 75 der knapp 100 Millionen MexikanerInnen an oder unter der statistischen Armutsgrenze. Hatte die PRI ihre verarmten Wählerschichten, besonders auf dem Lande, jahrzehntelang mit klientelistischen Sozialhilfeprogrammen über Wasser gehalten, so findet die ultraliberale Logik ihres Nachfolgers nun auch Anwendung auf die Sozialpolitik. Die Armen sollen mittels Mikrokrediten, Technologieberatung und gezielter Weiterbildung ihre Produktivkraft wieder entdecken. „Wir wollen, dass jede Familie ihre Armut aus eigener Anstrengung und mit ihren eigenen Fähigkeit überwinden kann“, sagte Fox einmal im Gespräch mit der Berichterstatterin.
Im Grunde, so der französische Soziologe Alain Touraine, gehe es Fox nicht nur um Marktwirtschaft, sondern um eine „Marktgesellschaft“.
Dennoch zeichnet sich der Fox’sche Politik-Mix weniger durch Lehrbuchdogmen denn durch pragmatisches Gespür für den politischen Zeitgeist aus. Schon im Wahlkampf stand der grossgewachsene 58-jährige weniger für konservative Prinzipien als für gutgeölte Publicity. Ohne Berührungsängste suchte er Verbündete über die Parteigrenzen hinaus bei Linksintellektuellen und Ex-KommunistInnen, PRI-DissidentInnen und UmweltschützerInnen. Und jeder Wählerklientel bot er – in bester Marktlogik – was diese am ehesten nachfragte: den Bankern und Unternehmern Freiheit, den StudentInnen ein Gratis-Studium, den Indios Gleichberechtigung und den Konservativen Familienwerte. Obwohl überzeugter Wirtschaftsliberaler, hatte er zusammen mit sozialdemokratischen Politikern und linksliberalen Intellektuellen schon vor Jahren eine Streitschrift „gegen den Neoliberalismus“ und für einen lateinamerikanischen „dritten Weg“ unterschrieben. Was unter seiner „Wirtschaft mit menschlichem Antlitz“ zu verstehen ist, wird dabei nicht näher erläutert. Da ist von einer „Regierung mit Geschäftssinn“, oder auch von „Bürgerregierung“ und Zivilgesellschaft“ die Rede.
Einen ähnlichen Spagat vollbringt Fox in gesellschaftspolitischen Streitfragen. Zum einen ist er der rechtsliberalen PAN verpflichtet, die als klerikal geprägte Mittelstandspartei schon seit Jahrzehnten gegen den Verfall der guten Sitten und eine allzu freizügige Sexualmoral Sturm läuft. Zum anderen weiß auch der katholische Präsident um die Unumkehrbarkeit der Moderne. Und so schwang er sich in seinem Wahlkampfbuch zu geradezu feministischen Positionen auf: es ginge ihm um die „Anerkennung der Rechte der Frauen, über ihre Zukunft und ihren Körper selber zu bestimmen“. Viele raten dennoch zu Wachsamkeit. „Wir müssen aufpassen“, schreibt Carlos Fuentes, „dass die alten klerikalen, homophoben, moralistischen und frauenfeindlichen Tendenzen der PAN nicht wieder aufkommen.“
Vom martialischen Drachentöter aus dem Wahlkampf mutiert Fox zunehmend zum zahmen Staatsmann. Die Zauberworte der Stunde lauten Konsens und Kontinuität. Mangel an Pluralität und Diskussionsbereitschaft aber ist ihm auch von Skeptikern kaum zu unterstellen. Sein ambitioniertes Projekt einer „Staatsreform“ wird nicht, wie bislang üblich, hinter verschlossenen Türen an Funktionärsschreibtischen sondern in einer mehr als 100köpfigen Reformkommission erarbeitet – darunter unabhängige GewerkschafterInnen und angesehene MenschenrechtlerInnen, prominente Intellektuelle und linke SozialwissenschaftlerInnen. Bei dem Reformprojekt gehe es, wie ein Sprecher der Kommission erläutert, um nichts weniger als um ein „neues Verhältnis zwischen Regierten und Regierenden“.
Zumindest diesen einen (Vor-)Satz könnte theoretisch auch die radikaldemokratische Zapatistenguerilla EZLN unterschreiben. Vor knapp sieben Jahren war sie unter dem Schlachtruf „Ya basta“ (es reicht) gegen den PRI-Autoritarismus angetreten. Dem foxistischen „Alle Macht den Märkten“ dürften die zapatistischen Aufständischen grösstes Misstrauen entgegenbringen.
Doch die Demokratie als freien politischen Spielraum hatten sie selbst einmal als „Vorzimmer“ zu einer neuen Republik bezeichnet. Subcomandante Marcos schrieb vor sechs Jahren: „Im Kampf um die Demokratie sind die Verortungen in Zentrum, rechts und links nicht so klar definiert. Es scheint angemessener, zwischen denen zu unterscheiden, die für einen demokratischen Wandel sind und denen, die für die antidemokratische Kontinuität einstehen.“ Ob Marcos, der Vicente Fox damals als „kämpferischen und konsequenten Bürger“ würdigte, den neugewählten Präsidenten auch heute noch dem demokratischen Lager zurechnen würde, ist nicht bekannt. Bis zuletzt herrschte zum Machtwechsel Schweigen in den lacandonischen Wäldern.
Aber auch die neue Mannschaft hält sich bislang seltsam bedeckt zum Thema Chiapas. Zwar hat Fox versprochen, die Gesetzesinitiative über indigene Rechte – auf Grundlage der im Februar 1996 mit der EZLN unterzeichneten und seither von Zedillo blockierten Teilabkommen von San Andrés – „schnellstmöglich“ dem Kongress zu unterbreiten. Von einem Teilabzug der Armee aus dem flächendeckend militarisierten Bundesstaat, einer der zentralen Forderungen der Zapatistas für die Wiederaufnahme der Friedensgespräche, ist bis jetzt nichts zu vernehmen. Einiges deutet dennoch darauf hin, dass auch in Chiapas neue Zeiten anbrechen könnten. So wurden vor wenigen Wochen erstmals Führer der paramilitärischen Bande „Paz y Justicia“ festgenommen. Und am 8. Dezember wird mit Pablo Salazar erstmals ein Mann Gouverneur , der nicht für sondern gegen die PRI kandidiert hatte.
Diese durchlebt unterdessen eine skurrile Zwangsmetamorphose von einer Staats- zur Oppositionspartei. Wendehälse, die die sinkende PRI-Tanic kurz vor oder nach dem Wahldebakel verlassen haben, behaupten heute frech, sich insgeheim schon immer im Widerstand geübt zu haben. Altgediente Hardliner fordern plötzlich Basisdemokratie, wettern gegen „neoliberale Umtriebe“ und bezichtigen Präsident Zedillo wegen seiner schnellen Anerkennung der Wahlniederlage gar des „Verrats“.
In den traditionellen Bastionen kann der zerrissene Apparat sich nach wie vor behaupten. Im südöstlichen Bundesstaat Tabasco hievte der PRI-Gouverneur Roberto Madrazo, mutmasslicher Wahlfälscher und einer der Anwärter auf den Parteivorsitz, Mitte Oktober erfolgreich mit altbewährten Mitteln seinem Gefolgsmann Manuel Andrade auf den Gouverneursposten . Aber auch Fox wird Anhängern wie Gegnern beweisen müssen, dass er es ernst meint. „No nos falles!“, enttäusche uns nicht, war in der rauschenden Siegesnacht vom 2. Juli selbst bei seinen Fans einer der meistgehörten Rufe. Doch das, wie der linksliberale Politologe Lorenzo Meyer schreibt „wird wohl weniger vom Präsidenten und mehr von uns allen abhängen.“
Die Autorin ist freie Journalistin und Mitarbeiterin der Berliner taz in Mexiko.
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